9. Mai 2024
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Jean-Philippe Toussaint´s Buch - Das Schachbrett - ist ein Lesevergnüpgen für Literaturliebhaber doch sogleich auch eins, das man gern liest, wenn man schachbegeistert ist und sich immer freut, Schach nicht nur zu spielen, sondern auch von Anderen zu lesen, wie sie zum Schachspiel gekommen sind und wie das Spiel sie auf ihrem Lebensweg begleitet hat,
All das erfährt man in seinem Buch. Toussaint erinnert sich an seine Jugend, seine Ängste und Zweifel welchen Weg er wohl beruflich gehen wird und seinen Werdegang als Schriftsteller, auf den er erfolgreich zurückblicken kann und eben auch an den Beginn seiner Schachleidenschaft.
Seine Erzählungen beginnen im Jahre 2020 als der Lockdown begann. Er läßt sich aber nicht zum Thema Corona verleiten, groß darüber zu philosophieren oder seine Gedanken dazu mitzuteilen. Ihm wird aber in dieser Zeit bewußt wie fast alle Menschen in dieser Zeit Karriere als private medizinische Berater machen wollen. Auch in seiner Familie halten seine Gäste ellenlange medizinische Erwägungen, Statistiken der aktuellen Entwicklungen der Pandamie, analysieren und mit eigenen persönlichen Kommentaren und epidemiologischen Betrachtungen bestücken. Er denkt Corona nicht.
Er hat einzig die Erkenntnis, dass diese Zeit den Menschen die Möglichkeit gibt die Zukunft auf eine neue Weise zu betrachten. Es sei Jedem selber überlassen ob er diese Zukunft als Gefahr erlebt oder ob er die Möglichkeit sieht, einen Vorteil daraus zu ziehen, eine Veränderung für sich selber und für das gesamte gesellschaftliche Miteinander.
Er sieht seinen Vorteil darin, sich in seiner Brüsseler Wohnung zurückzuziehen um drei Projekten nachzugehen. Diese sind das Projekt einer Übersetzung der Schachnovelle von Stefan Zweig, was ihm nicht leicht fällt, wegen seiner vorhandenen Deutschkenntnisse. Das zweite Projekt ist ein Essay über das Schreiben an sich und als drittes Projekt der Beginn dieses Buches.
Wir lesen in 64 Kapiteln wie die Felder auf dem Schachbrett wunderbare Andekdoten aus seinem Leben immer auch in Verbindung mit dem königlichen Spiel. Gefallen hat mir seine Aussage, dass die Literatur das sicherste Mittel ist, um den Verletzungen der Realität aus dem Weg zu gehen. Bücher lassen einen immer die reale Gegenwart vergessen machen und schaffen Freiraum.
Er verweist auf das Schachmatt, dass vom persischen *chāh māt* abstammt und bedeutet * der König ist tot* den er auf seinen Vater auch anwendet, mit dem er als Jugendlicher Stunden am Schachbrett verbracht hat. Stets hat er verloren. Sie eröffneten ihr Spiel beide immer mit dem Königsbauern und der andere antwortete mit e5. Sein schachliches Können als Jugendlicher war noch nicht sehr weit fortgeschritten. Später als er sich intensiver mit der Schachtheorie beschäftigt hatte endete sein letztes Spiel mit seinem Vater fast in einem Sieg. Aber ab da wollte sein Vater nie mehr gegen ihn antreten. Er konnte nicht gegen seinen Sohn verlieren. Und Toussaint mutmasst, dass sein Vater das Schachspiel eigentlich gar nicht liebte, sondern er liebte es zu gewinnen.
Ich glaube, das kommt oft vor, vor allen Dingen bei Hobbyspielern.
Sein empfohlenes Standardwerk ist für ihn * Mein System* von Nimzowitsch, in dem dieser das Konzept entwickelt, das den Rahmen des Schachs im strengen Sinne überschreitet und eine Dimension poetischer Utopie entwickelt. Obwohl das Werk in weiten Teilen sehr technisch ankommt habe dieses Buch eine unübersehbare literarische Dimension und man muss kein Großmeister sein,um der spekulativen Finesse von Konzepten etwas abzugewinnen. Auch auf Nabokovs *König Dame Bube verweist er in seinem Buch, dass er immer mal wieder gelesen habe.
Er erzählt wie er 2 x dabei war, als Kasparow und Karpow gegeneinander antraten. 1986 flog er eigens nach London um einmal eine Partie einer Schachweltmeisterschaft mit zu erleben. Er erinnert sich an den Auftritt Kasparow in den Räumen des Park Laine Hotels in seinem dunkelgrauen Anzug und Krawatte, breitschultrig, untersetzt und zum Kampf entschlossen stieg er wie ein wildes Tier oder wie ein Jahrmarktsringer auf die Bühne. Er spürte förmlich die agressiven Wellen die von seinem Körper und seinem dunklen Blick ausgingen, als würden sie sich vor ihm in giftigen todbringenden Dämpfen materialisieren und er konnte sich vorstellen, was es bedeutet, einem solchen Individium am Schachbrett gegenüber zu sitzen.
Einige Jahre später, genauer 1990, war er wieder dabei als die Beiden in einem ihrer letzten Kämpfe sich gegenüberstanden. Er bezeichnet dieses Match als eines der letzten Schachfeuer ihres über fünf Jahre andauernden legendären Duells.
Super spannend ist auch sein Erzählen wie er für einen Film, den er drehte, den Großmeister Jussopow engagierte, der damals im Schachclub Bayern München spielte und der auf seine Anfrage bezüglich des Films nur knapp mit einem *Njet* antwortete, aber dann später doch zusagte. Lustig wie Jussopow dann aber erfuhr, das er selber, Toussaint die Rolle seines Gegners, dem Großmeister Lanskoronskis, in diesem Film übernehmen werde. An seinem Gesicht konnte er ablesen, dass ihm das gar nicht gefiel, gegen ihn, Toussant zu verlieren und wenn auch nur im Film. Jussopow zählte zu dieser Zeit zu den fünf besten Schachspielern der Welt. Auf Jussopows perpelxes Gesicht konnte er nur antworten. Tut mir leid, ich kann nichts dafür, es steht so im Drehbuch. Herrlich.
Allerdings durfte Jussopow sich eine Partie aussuchen, die im Film gespielt werden sollte. Und dass er, Toussaint, mit schwarz spielen solle. Und Jussopow wählte die beste Partie seines Lebens, die berühmte Unsterbliche. Es war die Partie, die er 1991 in Brüssel gegen Iwantschuk gewonnen hatte. Darüber kann man hören im Schachgeflüster-Podcast: https://www.schachgefluester.de/tigersprung/
Übrigens hat Toussaint später in Belin tatscächlich gegen Jussopow eine Blitzpartie gespielt, die remis ausging. Darauf war er natürlich sehr stolz.
Eine Anekdote, genauso spannend erzählt, wie die mit Jussopow war seine Begegnung und Freundschaft mit dem französischen Schachgenie Gilles Andrue, den er in der Bibliothek des Centre Pompidou, wo sich tagtäglich Schachspieler trafen, kennenlernte. Ich verrate aber nichts, ihr sollt es ja lesen. Nur soviel, für den der es nicht weiß, Gilles Andruet wurde später von der Glücksspielmafia ermordet.
Intressant fand ich Toussaints Bemerkung über das Schachspiel im Film. Er sagt aus, dass die Schachpartien, die man im Film zu sehen bekommt, in aller Regel unglaubwürdig seien. Die Stellungen auf dem Schachbrett entstammen zumeist entweder der Fantasie oder sie sind schlicht weg einfach absurd. Was der Laie natürlich nicht sehen könnte.
Toissaint sagt am Ende des Buches, dass dieses die Dimension eines *kairos* bekommen sollte, was bedeutet ein günstiger Moment. Der Begriff kairos war mir nicht fremd. Kannte es aus meiner langjährigen Beschäftigung mit Glaubensfragen in der katholischen Kirche. Mir hat dieser Ausdruck immer gefallen, da ich oft im Leben wenn Entscheidungen anstanden, auf genau diesen günstigen Moment, dem Kairos, wartete.
Dieser günstige Moment war für Toussaint die Covid-19-Pandemie, ohne die er dieses Buch wohl niemals geschrieben hätte. Er woltle weiterhin das Sichtbarwerden des Alters zur Sprache bringen, das ihn selber wie ein aufsteigender Nebel zu umhüllen begann und er wollte dass dieses Buch von ebenso vielen Spieleröffnungen wie Endspielen handelte. Er wollte in diesem Buch von seiner Kindheit, seiner Jugend und Adoleszens, von seinem Verhältnis zum Schach erzählen, von Anbeginn an. Und das in 64 Kapiteln wie die 64 Felder auf dem Schachbrett.
Ich finde das ist ihm wunderbar gelungen. Mich hat es Seite um Seite in den Bann gezogen und es ist sicherlich nicht das letzte Mal, dass ich es gelesen habe.
Biographien, die ich gerne lese, sind wunderbare Möglichkeiten immer wieder auch auf eigene Erinnerungen zurückzugreifen, sie zu vergleichen mit denen der Schreibenden, wie man selber mit möglichen gleichen Lebensverhältnissen umgegangen ist, was die Schreibenden gelernt haben und wie man sich selber weiter entwickelt hat im Laufe des eigenen Lebens. In diesem Falle war es für mich besonders spannend, weil es eben auch den Bezug zum Schachspiel vorweist, mit dem ich selber erst im fortgeschrittenen Alter begonnen habe und dass mir bis zum heutigen Tage noch immer viel Freude bereitet. Ich hoffe, das wird sich nicht ändern.
Viel Vergnügen beim Lesen dieses schönen Buches!
jean-Philippe-Toussaint
Das Schachbrett
Frankfurter Verlagsanstalt
ISBN 9783627003180
Gebunden, 256 Seiten, 24,00 EUR
Gebunden, 256 Seiten, 24,00 EUR