Geben Sie was auf Filmkritiken? Ich jedenfalls nicht. Und das hat sich wieder als richtig herausgestellt. Mein Auge fiel auf eine kleine Filmrezension in einem Frankfurter Städteblättchen. Kurz, nicht mal zehn Zeilen, wurde er dort beschrieben. Der letzte Satz sagte aus, dass es sich bei diesem Film um "Sozialkitsch" handele. Da wurde ich hellhörig. Was bezeichnen so Schreiberlinge einer Städtezeitung, die sich durch Mainstreamgehabe und Leistungsträger unserer Gesellschaft auszeichnen, als Sozialkitsch? Muß sagen, ich dachte gleich, jetzt aber erst recht. Die FR zeigte mir mit ihrer Rezension ein ganz anderes Bild. Also lange Rede kurzer Sinn...ich wollte den Film schauen.
Warum? Nun...das Thema hat mich interessiert. Ein traumatisierter psychotischer Mathematiker, der mit den Leistungsanforderungen unserer Gesellschaft nicht mehr zurecht gekommen ist, steigt aus. Wenn auch gezwungenermaßen. Nach einem Klinikaufenthalt, mit guten Wünschen und einer Palette an Psychopharmaka wird er in die Realität entlassen. Beim Anblick der ganzen Palette Pillen kam sofort eine extreme Abneigung in mir hoch. Als wenn der Mensch mit Pillen auf Vordermann gebracht werden soll, damit er wieder mitmischen kann und gefälligst seine Leistung erbringen soll.
Es schien im Leben von Martin, so heißt er, der Protagonist. auch bis zu einem Zeitpunkt alles gutgegangen zu sein, gutdotierte Stellung als Mathematiker in einem großen Unternehmen, eine Freundin. Sein Leben schien geordnet. Er arbeitete bis zur Erschöpfung. Aber das sehen Chefs nicht. Für sie gilt nur die Leistung, die dem Betrieb Gewinn bringen soll. Ich kann nix dafür, aber dazu fällt mir natürlich sofort der olle Erich Fromm ein, der schon vor Jahrzehnten die Beziehungslosigkeit zwischen den Menschen angeprangert hat, auch in der Arbeitswelt.
Martin erleidet einen Totalzusammenbruch, landet in der Psychatrie, wird entlassen und erleidet Schiffbruch, aber total. Seine Versuche wieder in der Realität anzukommen, scheitern schon bei dem Gespräch mit seinem Arbeitgeber, in dem es darum ging, dass er seine alte Stelle wieder antreten möchte. Natürlich, was auch sonst, stößt er auf Ablehnung. Diese natürlich verpackt in menschenfreundliche Fürsorge. Sie wissen ja...wir würden ja gern...aber wir machen uns Sorgen, ob sie der Leistung standhalten können. Genau! Das ist das Thema. Leistungen standhalten, belastbar sein in dieser Welt. Was ist aber, wenn man dem nicht entspricht? Wenn es Schwachheiten gibt, Verletzlichkeiten, Unaufgearbeitetes aus Kindheits- und Jugendjahren, die einen vielleicht auch unbewußt, beeinflußen. Die man nie aufgearbeitet hat? Dann kann Mensch sehen, wo er bleibt, wie er damit fertig wird.
Martin scheitert also, keine Neuanstellung, Verlust der Wohnung. Der Gerichtsvollzieher erscheint zur Räumung. Martin hatte sowieso keinen Antrieb mehr, keine Aktivität. Er dämmerte völlig isoliert vor sich hin, umnebelt von seinen Psychopharmaka und dem Alkohol.
Parallel dazu sehen wir die Geschichte des 10jährigen Victors, der durch die Straßen trollt, sich mit Leerflaschengut seinen Lebensunterhalt sichert und seiner Mutter davon den nötigen Alkohol besorgt. Diese ebenfalls im alkoholisierten Dämmerzustand. Auch Victor ist im Grunde isoliert. Eines Tages findet er sie leblos in der Wohnung. Er hat erkannt, er ist allein, von jetzt an.
Beide, Martin und Victor treffen sich. Martin torkelt nach dem Rausschmiß über eine stark befahrene Autostraße und wird von einem Auto angefahren. Der Fahrer des Wagens agiert völlig lieblos, hat nur Angst um sich selber, sein Auto und sein Ansehen und schleppt den verletzten Martin an den Randstreifen und macht sich auf und davon. Für mich ist in dieser Szene deutlich zu sehen, wer eigentlich hier in unserer Gesellschaft der Verwahrloste ist. Das ist nicht Martin, sondern dieser angepaßte Unternehmerheld. Martin rettet sich in ein Abbruchhaus, wo er in einen tiefen Schlaf fällt, von dem er durch heftiges Geschreie wachgerüttelt wird. Er steht auf und wird Zeuge, wie zwei Halbstarke den 10jährigen Victor verprügeln. Er denkt nicht lange nach, sondern greift sofort ein. Verteidigt den Jungen und kann die Angreifer in die Flucht schlagen. Von da an beginnt eine ungewöhnliche Freundschaft zwischen den Beiden.
Sie schlagen sich durch an den Stadtrand. Martin trifft dort auf seinen Vater, ein brutaler und gewalttätiger Mensch. Eine Nacht bleiben sie dort. Martin überfallen Alpträume aus seiner Kindheit, in der er den brutalen und gemeinen Schlägen seines Vaters ausgeliefert ist. Er hört am Morgen, wie sein Vater die Klinik anruft und darum bittet, Martin sofort abzuholen.
Martin und Victor fliehen. Es bleibt ihnen der Wald. Sie bauen sich eine Hütte, versorgen sich dort mit allem Lebensnotwendigen und entziehen sich den Zwängen des Alltagslebens und der Realität. Es ist schon sehr schön zu sehen, wie die Heilkräfte der Natur den Menschen wirklich wieder zum Menschen machen.
Es entsteht hier nicht nur eine tiefe Freundschaft, die im Grunde nichts anderes ist, als ein Bild für die Freundschaft die Martin mit sich selber schließt, mit dem Jungen, der er selber mal war, der seine Mutter tot aufgefunden hat, wie Victor und der der Gewalt seines brutalen Vaters ausgesetzt war. Martin schaut der Bestie in sich in die Augen. Plötzlich hat er keine Angst mehr. Es gibt mehrere Bilder in dem Film, die diesen Blick in die Augen der Bestie sehr deutlich und sehr berührend aufzeigen. Zum einen die Staatsgewalt, der Martin immer wieder ausgesetzt ist, dann eines Nachts dem Wolf, der vor der Hütte erscheint und den die Beiden sich anschauen, bis der Wolf kapiert hat, hier gibt es nichts zu holen. Und dann die Arbeiter, von denen die Beiden eines Tages überrascht werden, als sie ihre kleine Wohnstätte mitten im Wald niederknüppeln.
Ich will jetzt nicht erzählen wie es weitergeht. Es gibt noch eine Begegnung mit einer jungen Frau, Lena, ausgelöst durch einen weggeworfenen Brief in einem Mülleimer und eine Beziehung zu ihr, die durch ihn entsteht. Nur so viel...Der Film hat eine großartige Botschaft. Und die heißt:"Hab keine Angst"
Und das zeigt Weingartne rsehr deutlich in diesem recht wortkargen Film. Dass es zwar Mut braucht, um der Bestie in die Augen zu schauen, aber dass nur dieses Anschauen der Weg ist, um sich zu befreien. Wer verdrängt, sich gar mit dem Agressor anfreundet, ihn verteidigt, wie es so oft im Leben geschieht bei Menschen nach dem Motto:"Ach so schlimm ist das doch alles nicht gewesen", wird weiterleiden und die Verdrängung schlummert wie eine Zeitbombe in ihm und er hat irgendwann keine Kontrolle mehr. Am Ende entgleist der Mensch, wie auch immer.
Was soll ich sagen. Hans Weingartner, der u.a. Gehirnforschung studiert hat, ist mit diesem Film ein großes Werk gelungen. Ich kann nur hoffen, diejenigen, die sich diesen Film anschauen begreifen ihn. Das war meine einzige Sorge nach dem Anschauen. Er zeigt die Zerbrechlichkeit des Menschen in einer scheinbar funktionierenden Gesellschaft, die einerseits den Anforderungen derselben standhalten will, aber im tiefsten Inneren leidet und dieses Leid irgendwann sichtbar wird in allen möglichen psychischen Erkrankungen, wie Burnout, Depression, Psychosen usw.usw..
Und am Ende, ich will es wie gesagt nicht verraten, hab ich tatsächlich weinen müssen. Lena und Victor, die sich mit ihm zusammen aufmachen wollten, in ein anderes Land, hält einen Zettel in der Hand mit der Botschaft Martins:"Hab keine Angst"... Ich bin mir sicher, dass Martin seinen Weg gehen wird. Und ich werde seine Klarheit in den Augen sicher nicht so schnell vergessen, sein Ganz-bei-sich-sein als er sich endlich getraut hat, den Bestien seines vergangenen Lebens und den Bestien und Wölfen der Realität, die ja nicht verschwinden, nicht nur in die Augen zu schauen, sondern ihnen stand zu halten. Sich nicht aufgeben. Sich nicht arrangieren.
Denn...wer diesen Film als "Sozialkitsch" bezeichnet, den kann ich nicht ernst nehmen. Der hat bei mir schon verloren. Denn es sind eh nur die Angepaßten dieser Gesellschaft, die meinen, sie seien auf der sicheren Seite des Lebens, wenn sie mitmachen und den Anforderungen entsprechen und meinen sie seien frei, aber in Wirklichkeit sind sie die UNFREIEN!
Guter Film! Anschauen! Unbedingt!
Die Summe meiner einzelnen Teile
Filmpalette Köln.
Und bedenkt, die Summe unserer einzelnen Zeile...wenn wir sie integrieren, zusammenfügen, entsteht neues Leben. Das wünsche ich mir und allen Menschen.