Bei mir geht das schnell. Ich kann von einer Sekunde vom Lachen ins Weinen fallen. Dazu braucht es nur einen kleinen Anlaß. Eine traurige Geschichte, die mir ein Anderer erzählt, die mir nahegeht oder eben eine kleine Erinnerung, die wachgerufen wird, so wie heute.
Nachdem ich heute mein Haushaltsprogramm abgeleistet hatte, mein Laufpensum erfüllt habe, was unbedingt nötig ist, wegen der Energien, sonst lauf ich nämlich Amok und mache meine Umgebung jeck mit Hüpfen, Tanzen und Springen.
Jedenfalls, nach getaner Arbeit, hab ich das Lastfm-Radio angestellt und mich an meine Staffelei begeben. Total versunken, der Musik lauschend und den Pinsel schwingend, mich völlig vergessend, bemerkte ich dennoch plötzlich einen andern, leisen Klang, von ganz woanders her. Zuerst dachte ich, hm...irgendwas stimmt nicht mit dem Lastfm-Radio. Ich machte weiter, aber der Klang wurde merklich deutlicher, kam näher. Ich drehte das Radio ab, um zu lauschen und stellte fest, dass der Klang von unten, von der Straße kam.
Ich schritt zum Fenster, wir haben ein kleines Erkerfenster von dem aus man prima bis hin zum Anfang des Wilhelm-Platzes schauen kann. Und da sah ich ihn und war vom ersten Augeblick an total verzaubert. Ich kann dann sowas von außer mir sein. Gänsehaut-Feeling und so....wie ich ihn da stehen sah, den jungen Mann, mit seinem Akkordeon. Und er spielte so schön....ein Flair von französischer Straßenmusik, irgendwo in einer Straße von Paris, und nun hier, bei uns, in meiner Straße. So was gab´s noch nie!
Ich blieb wie gebannt am Fenster stehen und schaute hinunter und um mich herum. Alle Anwohner kamen an die Fenster. Jeder schien ähnlich wie ich überrascht zu sein. Jeder verharrte und lauschte. Neben dem Akkordeon sah ich, dass er einen kleinen Becher bereit hielt. Ich hab zuerst überhaupt nicht kapiert, reagiert, bis ich sah, dass eine Nachbarin im Nebenhaus, von ganz unten, etwas ins Töpfchen warf. Hallo rief ich ihn, ich auch. Da bin ich sofort dabei. Ich meine...da kann ich nicht nein sagen. Ich fand es einfach so schön...wie er da stand und mit seiner Musik die Menschen aus ihrem alltäglichen Trott herausriß und sie verzauberte.
Und genau in diesem Moment überfielen mich die Erinnerungen an meine Kindheit. Damals, als wir noch im Vötenhof in Duisburg wohnten, ein Raum, klein, eng, dunkel, alte rußgeteerte Kohlensiedlungshäuser, Altbau, Klo auf dem Hinterhof, mußte man spät abends mit Taschenlampe suchen. War nicht schön. Ich hatte ziemlich viele Ängste, vor allen Dingen, wenn ich allein den Weg gehen mußte. Es huschte auch so allerlei Getiers über den Hof. Naja..ich hab´s überlebt. Es gab Schlimmeres.
Aber tagsüber, wenn ich bei den Schularbeiten saß, am Fenster, da stand unser Küchentisch, da hörte ich sie auch manchmal, allerlei Fahrtgesellen. Manche kamen noch um Lumpen zu sammeln, der Alträucher, der Eisenwarensammler, auch der kleine Wagen, mit den Lebensmitteln. Ja...das gab´s noch, damals. Und dann der Leierkastenmann. Einmal die Woche fuhr er durch unsere Straße. Ich erinnere mich nicht mehr an den Wochentag, aber ich erinnere mich genau meines Staunes, damals, als Kind und die Vorfreude. Ich wartete nämlich immer auf ihn. Es gab nicht soviel Musik für mich. Aber ich liebte Musik, schon damals. Musik ließ mich träumen, schweben in meine innere Welt oder einfach hinaus mit meinen Träumen in eine andere Welt. Musik hatte schon immer die Macht in mir, mich von irgendetwas zu heilen, was mir gerade schwer fiel oder mich einfach anzutreiben, zu Taten. Musik gab mir Kraft, auch damals schon, zu überleben, was es zu überleben gab.
Jedenfalls...der Leierkastenmann war schon ein wenig eine kleine Rettung im Alltag damals. Ein bißchen vermittelte er mir, dass es auch Schönes auf dieser Welt gab, dass zu entdecken, ich irgendwann bereit werde, wenn ich mal für mich allein verantwortlich werde.
Der Leierkastenmann spielte vor jedem Haus, wie der Akkordeonmann heute in meiner Straße und auch er wartete, bis die Anwohner ihm ein Zubrot, ein paar Pfennige, Groschen in seinen Kasten warfen. Mit dem einen oder anderen sprach er ein paar Worte, erzählte so dies und das, von dem, was er unterwegs gesehen hatte. Niemand wußte, woher er kam, wohin er ging. Auch ich fragte mich, wo er wohl schlafen würde. Kinder haben merkwürdige Fragen.
Und so dachte ich auch heute. Woher er wohl kam, dieser junge Mann. Irgendwie aus einer anderen Zeit. Sympathisch sah er aus. Man sah ihm die Freude an seiner Musik an. Man könnte jetzt denken, hm...hat der denn keine andere Arbeit? Kann er denn damit überleben, was er da macht. Da kam mir wieder der Gedanke...vielleicht will er das gar nicht, eine richtig Arbeit oder das, was "man" sich so darunter vorstellt. Vielleicht ist er glücklich, mit dem was er da tut. Vielleicht zieht er durch das Land mit seinem Akkordeon und bringt den Menschen ein kleines Stückchen Musikwelt in ihre Häuser, reißt sie, so wie heute, aus ihrem Trott, läßt sie aufhorchen, anhalten, stillhalten. Ja... und vielleicht hatte jeder heute in unserer Straße so wie ich plötzliche Erinnerungen an eine Zeit, als die Welt sich noch langsamer bewegte. Als Menschen öfters mal auf der Straße standen und sich austauschten, Nachbarn, einfach so, miteinander erzählten, miteinander lachten und scherzten. Zumindestens dann, wenn sie kamen, die fahrenden Gesellen.
Schade...dass es so was nicht mehr öfters gibt. Aber schön...dass ich das heute nochmal erleben durfte... Ich war ganz gerührt. Ein seeliger Augenblick. Kann vielleicht keiner verstehn, aber für mich war es so...Ein Moment Glückseligkeit...ein Moment eine andere Welt. EIn Moment Musik scheinbar aus einem anderen Land....
Ich lauschte noch eine Weile, bis er leiser wurde und verschwand. Der Akkordeonmann. Ich wünsche mir, er käme wieder, irgendwann einmal und verzaubert unsere Straße nochmal von neuem. Das wär schön!