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30. März 2021 2 30 /03 /März /2021 14:07

Wer sich über die freien Ostertage noch mit Lesestoff versorgen will, dazu Schach- und Literaturliebhaber ist, dem empfehle ich wärmsten Herzens dieses 123 Seiten lange kleine Büchlein von Vincente Valero *Schach Novellen*

Ich hatte bisher noch nichts von ihm gelesen, genauer gesagt, kannte ich diesen 1966 auf Ibiza geborenen spanischen Autor überhaupt nicht.  Als ich ein wenig im Netz nach ihm geschaut hatte, entdeckte ich kaum etwas, nur soviel wie dass er Gedichtbände, Essays und erzählende Prosa veröffentlicht hat. Das wird sich sicher ändern. 

Valeros Onkel, Alberto, war einst ein guter Freund von Miguel Najdorf, mit dem er in Argentinien natürlich auch einige Partien gespielt hatte. Von Alberto über seinen Vater hat Valero dann auch ein kleines Reiseschach vererbt bekommen, welches er auf seinen Reisen immer bei sich trug. 

Valero lebt grundsätzlich abgeschieden von der Welt, nach der Devise: Je mehr sich einer begrenzt, um so mehr ist er andererseits dem Unendlichen nahe.  Doch immer mal wieder überkommt ihn ein Gefühl des "aufbrechen müssens" oder ein *ich muss weg von hier*. Dazu kommen hin- und wieder natürlich auch berufliche Reisen zu Lesungen.

In seinem Büchlein nimmt Valero uns mit an vier verschiedene Orte, Italien, Dänemark, Zürich und Augsburg. Innerhalb dieser Orte wiederum führt der Zufall Regie und er macht kleinere Abstecher an andere  interessante Orte. 

Manchmal besucht er einen Freund, das ihn nach Dänemark führt, ein anderes Mal  überlässt er es dem Zufall und in in einigen Fällen  steht ein Ereignis an, zu dem es ihn hinzieht oder er aus beruflichen Gründen dazu aufgefordert ist.

Und wie sich schon erahnen lässt geht es auf seinen Reisen um Schach und Literatur. Schach, weil er selber ein leidenschaftlicher Spieler ist, Literatur, weil er bei seinen Reisen immer wieder auf Orte trifft, wo einige der großen Schriftsteller und Philosophen gelebt oder zumindest für eine Zeit lang dort gelebt haben, wie Brecht, Walter Benjamin, Friedrich Nietzsche, Franz Kafka und Rainer Maria Rilke, deren Spuren er detektivisch nachsucht und er feststellt, dass alle Wege dieser vier großen Dichter, Denker und Philosophen sich immer wieder gekreuzt haben.

Valero spricht vom Wesen des königlichen Spiels, was es für ihn und für Menschen, die diesem nachgehen, bedeutet, erwähnt Eröffnungen und nimmt immer mal wieder Bezug auf die Größen des Schachs und ihren besonders hervorzuhebenden Partien. 

Natürlich spielt er auch selber Schach auf diesen Reisen, mal mit Freunden, mal mit Menschen, die er ganz unverhofft im Cafe oder an anderen Orten kennen lernt. Ja, er trifft dort Menschen, die ihm zu Freunden werden. 

Da ist sein Freund in Dänemark, mit dem er sich die Stunden des tosenden Orkans *Xaver*, der bei seiner Reise gerade in Nordeuropa sein Unwesen trieb, bis in die Nächte hinein vertreibt.  Dann wieder ist es ein altes Ehepaar in Turin, dass er zufällig bei einem Frühstück in einem Cafe bei ihrem morgendlichen Schachspiel kennenlernt. Sie sind Rentner und hatten es sich zur Angewohnheit gemacht, Morgen für Morgen in dieses Cafe zum Frühstück zu gehn, dort Zeitungen zu lesen und eben Schach zu spielen. Valero kommt zu der Erkenntnis, dass die Ehe zweier schachspielender Partner wohl Zeit eines Leben halten müsse. 

Dann wiederum, auf den Spuren von Rilke trifft er auf einen Kellner in einem Restaurant, der zwar selber kein großes Interesse für Schach oder Literatur hegt, dafür um so mehr für Wein und der ihm seine Lebensgeschichte erzählt und Valero von diesem erfährt, dass dessen Großvater jedoch begeisteter Schachspieler war und Alexandrowitsch Aljechin gekannt habe, den größten Spieler aller Zeiten, der sogar ein Foto der Beiden besitzt, wo sie in einem Moskauer Cafe bei einer Partie Schach sich vergnügen. 

Valero befand sich bei dieser Gelegenheit auf einem Abstecher von Zürich. Er hatte diese Reise gerade fünzigjährig angetreten und wollte sich einmal im Leben das Privileg herausnehmen, an dem außergewöhnlichen Schachereignis, der Zürich Chess Challenge, teiltzunehmen. Er besorgte sich eine Presseakkreditierung um nicht nur beim Turnier dabei zu sein, sondern sich auch im großen luxuriösen Hotel Savoy, in dem die Spieler untergebracht waren, diese aus nächster Nähe zu nähern. Die Teilnehmer waren keine anderen wie Visvanathan Anand, Fabiano Caruana, Boris Gelfand und Waldimir Kramnik sowie der Mäzene des Turniers, dem russischen Milliadär Oleg Skworzow und den Präsidenten der sage und schreibe 1809 gegründeten Schachgesellschaft Zürichs und der somit der älteste Schachclub der Welt ist.  Wirklich herrlich wie er die Schachstreiter an ihren Brettern beschreibt, herausgeputzt mit ihren Wollkrawatten, saßen sie da steif und lächelten wie Musterknaben und ihr Anblick gar nicht an den unglückseligen Lushin aus Nabokows Schachroman *Lushins Verteidigung* erinnerte. Und wie die Geräusche ab Beginn des Spiels der Teilnehmer von jetzt auf gleich versiegten und sich geradezu eine heilige Stille in dem Saal verbreitete. 

Valero erzählt wunderbar über die Menschen, die er an diesen Orten trifft, über die großen Literaten und Philosophen und teilt uns seine eigenen Befindlichkeiten und Gedanken mit, die er dabei hegt. Einmal wird er sogar an eine Grenze gestoßen. Als er eine Lesung in Augsburg halten soll, um seine Gedichte vorzutragen, wird er am Ende von einem älteren Besucher mit einer überraschenden Frage konfrontiert:" Haben Sie schon einmal ein Gedicht über den Holocaust geschrieben?" Er konnte nur mit einem *Nein* antworten, worauf der Fragende mit einer grandiosen Rede ansetzte, die am Ende zu einem Tadel auch an ihm selber endete. Ihm fiel dazu plötzlich Adornos bekanntes Verdikt ein: demzufolge *nach Ausschwitz ein Gedicht zu schreiben barbarisch sei*, er aber auch meinte festzustellen, dass der Fragende offenbar geradezu der Ansicht war, nach Ausschwitz müssten alle Dichter der Welt wenigstens ein Gedicht über den Holocaust schreiben. 

Den Fragenden, dessen Namen Detlef war, wie er dann später herausfand, weil er ihn in einem Cafe zufälligerweise wieder traf. Und womit beschäftigte sich dieser wohl? Natürlich mit dem Schachspiel. Und so kam es auch zwischen den beiden zu einigen Partien und Valero wird Zeuge der erzählenden Lebensgeschichte dieses interessanten Menschen.

Das Büchlein ist kurzweilig, interessant und mitreißend. Ich habe es durch Zufall bei den neuerscheinungen in unserem Laden entdeckt und es mir natürlich sofort erstanden. 

Ich hoffe, ich kann den Einen oder Anderen dafür ebenfalls begeistern, denn es hat es verdient, gelesen zu werden. 

Und wie sagt Valero immer wieder:

Es ist und bleibt ein Geheimnis, wohin eine Partie einen führen kann!

So ist es wohl auch mit dem Leben!

 

Viel Vergnügen

Vicente Valero

Schach-Novellen

Berenberg Verlag

Isbn: 978-3-946334-89-7

22,00 Euro 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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9. März 2021 2 09 /03 /März /2021 09:06

Heute wäre Bobby Fischer 78 Jahre alt geworden.  Aber schon mit 65 Jahren, genau am 17.01.2008 verstarb er. Ich erinnere mich noch genau an diesen Tag. Die Schachwelt hatte eine der eigenwilligsten Persönlichkeiten unserer Zeit verabschiedet. Bobby Fischer, der offizielle Schachweltmeister 1972-1975 war tot. Selbst wenn man vom Schachfieber noch nicht ergriffen war, kam man an ihm nicht vorbei. Im isländischen Exil, wo er Schutz gefunden hat vor den Nachstellungen der US-amerikanischen Justiz.

Sein Vergehen: Er hat 1992 noch einmal ein Schachduell gegen seinen alten Rivalen Borris Spasski ausgespielt. Dieses Match fand im ehemaligen Jugoslawien statt, und Fischer hatte damit ein Embargo der USA ignoriert, welches zu dieser Zeit jedem Bürger der Vereinigten Staaten geschäftliche Verbindungen mit Jugoslawien strikt untersagte. 

Bobby Fischer war ein Monomane, der vor allem in jungen Jahren fast nichts kannte außer Schach. Zur Institution Schule hat er sich als Erwachsener mal so geäußert:" I don´t remember one thing, I learned in school". Wenn auch diese Aussage von mir selber und vielen anderen Menschen nachvollziehbar war und ist, so hat er aber auch sehr merkwürdige Dinge von sich gegeben, die man besser gar nicht zitiert. 

Auf dem Schachbrett war er unumstritten ein Genie. Unvergleichlich ist die Art und Weise, wie er in den Kandidatenduellen, welche dem WM-Kampf 1972 vorangingen, seine Gegner an die Wand gespielt hat. Er hat dabei das phänomenale Kunststück fertig gebracht, 19 Wettkampfpartien in Folge zu gewinnen, ohne auch nur ein einziges Remis abzugeben. Und das gegen Großmeister, die allesamt der absoluten Weltspitze angehörten. Einige seiner Gegner haben berichtet, dass von Fischer eine ganz starke Wirkung ausging , wenn man ihn am Brett gegenüber saß. Fischer selbst hat aber gern betont, dass er in erster Linie an starke Züge glaubt und nicht an Psychologie.

1972 kam es im isländischen Reykjavik zum "Wettkampf des Jahrhundert". Bobby Fischer gegen den amtierenden sowjetischen Boris Spasski. Seit vielen Jahren hatte es eine Hegemonie der Sowjets im Weltschach gegeben. Und nun, mitten in der Zeit des kalten Krieges, schickte sich ein junger US-Amerikaner an, diese Hegemonie zu brechen und den Weltmeistertitel für sich zu erobern. Das Publikumsinteresse sprengte alles, was man im Schach bisher erlebt hatte. Dazu hat auch beigetragen, dass sich Fischer aufführte wie die launischste Diva, die man sich vorstellen kann. Er stellte immer wieder neue Forderungen, drohte ständig mit Abreise. Der Wettkampf hing permanent an einem seidenen Faden. Fischer, der stets den höchsten Einsatz riskierte, war auch am Verhandlungstisch äußerst unbequem. Bemerkenswert ist, dass das Preisgeld fast das 20 fache dessen betrug, was beim vorhergehenden WM-Kampf (Petrosian-Spasski 1969) gezahlt wurde. Insofern kommt Fischer das Verdienst zu, dass Schachprofis seitdem wesentlich bessere finanzielle Bedingungen vorfinden als zuvor. Letztendlich ging der Wettkampf über die Bühne und Fischer wurde Weltmeister. 

Doch "schwer ruht das Haupt,  das eine Krone drückt"? Jedenfalls zig sich Fischer von Stund an völlig aus dem offiziellen Schachbetrieb zurück, spielte bis zu dem zuvor erwähnten "Rentnermatch" (so qualifizierte es Garry Kasparow) keine einzige Turnierpartie mehr. Auch liebte er es unterzutauchen und sich geschickt den  Nachstellungen von Journalisten zu entziehen.  Über viele Jahre hinweg geisterte er wie ein Phantom durch die Gazetten, Niemand schien etwas Genaues über seine Lebensweise und seinen Aufenthaltsort zu wissen. 

Robert James Fische, so sein korrekter Name, wurde 2004 in Tokio wegen des US_Haftbefehls festgenommen und verbrachte daraufhin acht Monate in japanischen Gefängnissen. Ihm drohte die Abschiebung in die USA, wo ihn ein Strafprozess erwartete.  Die Angelegenheit nahm für Fischer eine glückliche Wendung, als ihm die isländische Staatsbürgerschaft angeboten wurde. Fischer ging darauf ein und ließ sich in Reykjavik nieder. Eine lange Zeit des beschaulichen Lebens war ihm jedoch nicht vergönnt, nach nicht einmal 3 Jahren verstarb er - vermutlich an einem Nierenversagen - 

Fischer verdankt man auch die "Fischer-Schachuhr", welche die Besonderheit aufweist, dass der Spieler mit jedem ausgeführten Zug einen Zeitbonus erhält, also eine kleine Draufgabe in der Bedenkzeit (ca. 15 Sekunden). Der große Vorteil: Hat sich ein Spieler auf dem Brett einen entscheidenden Vorteil herausgearbeitet, so scheitert die Realisierung dieses Vorteils nicht mehr daran, dass ihm gar nicht mehr genügend Zeit verbleibt, seine Züge rein physikalisch auszuführen. Allein das Rücken der Steine und das Betätigen der Uhr nimmt ja etwas zeit in Anspruch. Die Idee der "Fischer-Uhr" spiegelt somit in gewisser Weise den Sportgeist und die Fairness ihres Urhebers wider. 

Zudem kam von Fischer die Erfindung, dass man die Grundstellung im Schach verändern sollte, um so die große Bedeutung der ins Uferlose angewachsenen Eröffnungstheorie zu nicht zu machen. Seine Variante dieses Schachs hat sich, wie wir alle wissen, etabliert . Zuerst wurde sie einfach "Fischer-Schach" bezeichnet, heute aber unter dem Namen "Chess960" salonfähig ist. Bei dieser Art des Schachs wird - unter Beachtung gewisser Grundregeln - die Ausgangsstellung vor jeder Partie ausgelost. Der Name "Chess 960" rührt daher, dass 960 verschiedene Grundstellungen zulässig sind. Auswendig gelerntes Wissen, vorbereitete Varianten und routinierte Erfahrung verlieren unter diesen Voraussetzungen an Bedeutung, gefragt sind stattdessen Geistesgegenwart und die Fähigkeit, allgemeine Prinzipien auf sehr wechselnde Situationen anzuwenden. 

Selber spiele ich diese Variation des Schachs unglaublich gerne und hab hin- und wieder schon so manchem starken Spieler damit einen Sieg abgerungen. 

Bobby Fischer - Ja..eine Legende - 

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7. März 2021 7 07 /03 /März /2021 10:32

In diesem wunderbaren Buch, dass jeder, der die Floyds liebte und immer noch von ihr in den Bann gezogen wird, einfach lesen muss, erzählt Gorkow von seiner Kindheit in den 70ern. Er hatte eine ältere Schwester, Gorkow 9 oder 10 Jahre alt, verehrt sie.

Und die Schwester liebt Pink Floyd. Die Schwester ist krank. Sie hat ein anderes Herz. Das Herz schlägt nicht wie alle Herzen schlagen sollten. Schuld ist Contergan. Die Mutter nahm es in der Schwangerschaft. Sie war so unruhig. Die Ärzte verschrieben es ihr. Sie hatten gesagt, es sei völlig harmlos, keine Nebenwirkungen. Die Mutter nahm es. Und nun hatte die Schwester ein krankes Herz. Die Ärzte sagten, sie werde nicht lange damit leben können. Eigentlich gaben sie ihr nach der Geburt wenig Zeit.  Die Schwester aber war eine Kämpferin. Sie wusste was Kampf bedeutet. Sie kämpfte nicht nur ihren eigenen Lebenskampf, sondern sie kämpfte auch gegen das Establishment.

Und sie hörte Pink Floyd. Weil, die waren auch gegen das Establishment, wie auch die Mothers of Invention oder Sweet oder T-Rex. Von T-Rex wüsste sie genau, dass sie für die Revolution sind. Die Schwester sagt ihm, dass T-Rex-Sänger Mark Bolan  die *bestehenden Verhältnisse* ablehnt. Was sind die *b-bestehenden Verhältnisse?" fragte er sie. Dass immer noch Nazis rumlaufen, wie das alte Schwein neulich im Hofgarten. Dass die Reichen überall fett hocken auf Kosten der Armen, das scheiß Establishment eben.

Das Establishment war in Büderich zu erkennen, einem Stadtteil  von Düsseldorf-Meerbusch. Da gab es Villen mit gepflegten Vorgärten, Mietwohnungen, in denen die, die es sich leisten konnten, wie auch die Eltern von Gorkow, sich Einbauküchen gönnten und dann gab es die Altnazis, die immer noch da waren, überall, in der Politik und versteckt hinter ihren bürgerlichen Fassaden.  Das sind die Schweine, erzählte die Schwester ihrem kleinen Bruder, die Millionen Menschen auf dem Gewissen hatten und immer noch da seien. Das Establishment, das waren all die den Hals nicht voll kriegten.

 

Alexander war ein Träumer...Du musst in die Welt schauen nicht in den Himmel, sagte ihm die Schwester immer. Denn in den Himmel schaute er immer gern, er erwartete dort die Pyramide, die, die auf dem Cover der Floyds von Darkside of the Moon zu sehen ist. Wenn er sie sieht, die Pyramide, dann hat er Kontakt zu Pink Floyd.  Alexander sprach wenig. Er stotterte. Deswegen ging die Mutter mit beiden Kinder ins Krankenhaus. Die Schwester wurde zur Untersuchung in die Kardiologie abgeliefert, der Bruder zu Herrn Waltherspiel, dem Logopäden, der liebte die Dubliners und überhaupt die irische Kultur. Wenn die mal in der Philipshalle spielten, dann müsse er mit kommen, der Junge. Und er sollte das Atmen nicht vergessen. Atmen, sagte sich Alexander immer wieder, wenn die Situationen irgendwie schwierig oder nicht zu verstehen waren, in die er hinein geriet. Atmen. 

In der Schule musste er viel atmen. Und still sein. Es gab den Schläger Richard le Bron, der nicht nur ihn unterdrückte und schlug. Richard immer im Gefolge von Panzerfrank, der aber nichts machte, sondern immer nur Richard Le Bron zustimmte in seinen Aussagen. Richard nahm sich auch oft *Hubi* vor, den kleinen Mongo, der zu ihnen in die Klasse gekommen war. Er sollte sich gewöhnen, die anderen aber auch.  An ihn. Hubi liebte Demis Roussos.  Er hatte ihn live gesehen mit der Mutter. Er sang immer sein Lieblingslied: "Goodbey my Love Goodbye". Einfach so. In der Stunde oder dann, wenn es mulmig wurde. Die Le Brons gehörten zum Establishment, daher konnte er sich viel erlauben.  Herr Le Bron und sein Sohn Richard sowie Panzerfrank wiesen die typischen Merkmale des Establishments auf, Gier, Feigheit und Charakterlosigkeit.  Ganz sicher werde die RAF ihn holen. 

Der Vater war der Chef zu Hause. Im Büro war er auch Chef. Mittags kam er nach Hause. Dann las er die FAZ oder das Buch von Barzel - Gesichtspunkte eines Deutschen. Barzel ist ein Monster, erklärte ihm die Schwester. So ein Monster wie in dem Film  Die Nacht der reitenden Leichen dachte Alexander sich.  Den Film hatte er schon oft gesehen im Ortskino. Die Monster sind überall. Seine Fantasie hatte da keine Grenzen. Manchmal waren sie alle Monster, die Floyds, die Sweets, die Mothers of Invention, die aus den Gräbern des Friedhofs stiegen und nach kleinen Kindern oder Jungfrauen Ausschau hielten.  Dann hatte er Angst. Dennoch liebte er wie seine Schwester die Musik von den Floyds.

Was hören die Kinder denn da, fragte der Vater. Sie hören Pink Floyd sagte die Mutter. Der Vater hörte und sagte, die kommen vom Jazz, ganz klar. Er war Jazzer. Miles Davis.  Nein, das ist Rock sagte die Schwester. 

Abend hörte der Vater die Nachrichten im ZDF mit Herrn Klarner. Auf Herrn Klarner konnte man sich verlassen.  Man durfte ihn nicht stören. Ich schaue die Nachrichten, sagte er dann, jetzt hab ich nicht mitbekommen was Giscard will.  Und wenn Herr Glaner "Guten Abend meine Damen und Herren" sagte, sagte der Vater "Guten Abend Herr Klarner". 

Samstags sprühte der Vater Gift im Garten für die Rosen. Wenn der Vater sprühte lief der Fernseher. Dieter Thomas Heck. Was hören die Kinder denn da, schrie der Vater aus dem Garten ins Haus. Er raucht dabei seine Dunhill. Er raucht immer. Die Mutter auch. Überhaupt, es wird immer und überall geraucht. Jeder raucht. Sie schauen und hören Dieter Thomas Heck ist die Antwort. Heck ist der, der mit Nebelmann Heino gemeinsame Sache macht. Er erscheint erstmalig an diesem Samstag mit seiner fipsigen Stimme ohne Vorwarnung. Dünn, zugleich fleischig, stolziert er durch das Publikum, ein roter Kragen über dem braunen Anzug, oben das helle Gefieder, darunter die eigentliche bleiche Person mit der geschürzten Schnute. Er brüllt. Sie ist das allerschönste Kind, das man in Polen find... Anneliese ruft der Vater aus dem Garten, mach das aus.

Alexander fragt die Schwester ob Heino auch zum Establishment gehört. Natürlich sagte sie, als Nationalsozialist gehört er einwandfrei zum Establishment. Sie erklärt ihm, dass es sich bei Heino um einen Menschen handelt, der Wanderlieder singt und dabei alles abfackelt. Erst vor wenigen Jahren habe seinesgleichen Polen überfallen, ein anderes Land. Dabei habe sich Heino in ein junges Mädchen verguckt, nämlich das allerschönste Kind. Die Menschen in Deutschland haben sich Heino erarbeitet, sagt die Schwester, die Verbrechen der Nazis, Ausrottungen in Lagern, verbrannte Haut, ausgeschossene Augen, all dies ist das Werk Heinos und seiner Freunde. Sie haben endloses Leid über die Welt gebracht, nun laufen sie wieder frei herum. 

Ich würde am liebsten all die drolligsten und humorvollen Dialoge und Erzählungen des Romans auflisten. Ich habe teils so lachen müssen, so herrlich, aber das würde den Rahmen sprengen. Ihr sollt ja selber lesen. Bei all dem Humorigen schwebt aber auch eine gewisse Melancholie über der Erzählung. Die Schwester, die krank ist. Und man nicht weiß, wie lange sie es schafft. Die Ungewissheit, wie es mit Alexander weitergeht in seiner Laufbahn, weil er ja stottert. Zwischendurch kam die Idee auf, empfohlen von Herrn Waltherspiel, er soll auf die Waldorfschule. Waldorf kenne er nur vom Salat, den die Mutter immer für den Vater kauft.  Rudolf Steiner, sagt der Vater, der sich dann mit einem Buch über ihn beschäftigt, ist meschugge. Was soll der Junge tanzen und malen. Das kann er auch zuhause. Er werde sich Herrn Waltherspiel vorknöpfen und auch den Pfarrer, der seinen Sohn geschlagen hat. 

Woanders gibt es Pink Floyd. Und die hören sie. Wieder und wieder. Und nachdem sie ein Jahr lang *Wish you where here* gehört haben, halten sie endlich die Neuerscheinung *Dark side of the Moon* In der Hand. Der Vater legt sie auf den Plattenteller des Thorens. Die Schwester lehnt sich an den Bruder und der Vater wartet auf den Herzschlag, dann auf den Beginn von *Breathe* um die Lautstärke am Marantz zu justieren.  Die Schwester sagt wie immer - zu leise -. Und dann geht der Vater in den Garten und während Gilmour zum ersten Mal *breathe in the air* ruft, sieht man oben das Flugzeug vom nahen Düsseldorf-Lohausen  kommen, aber man hört es nicht, denn Gilmour und der Chor rufen * Listen son, said the man with the gun/There´s room for your inside. 

Am Ende gibt es einen Epilog von Gorkow, der erzählt, wie er Roger Waters dann später mehrmals interviewte. Er lebt jetzt in München. 

Während des Lesens habe ich natürlich alles von Pink Floyd gehört und mich daran erinnert, wie sie mir das Leben gerettet haben mit ihrer Musik. Wie ich sie auf meinem aufklappbaren Plattenspieler wieder und wieder gehört habe, auf dem Sofa liegend, mit meinem Hund neben mir, wenn ich nicht mit ihm nach der Schule irgendwo herumstromerte oder im Drops, einem Szenelokal in Köln damals herumlungerte. Pink Floyd hat mein ganzes Leben begleitet, mit ihnen verbinde ich so Vieles, meine Freunde, die nun fast alle verloren gegangen sind und auf deren Beerdigungen ebenfalls die Floyds spielten. Wish you where here oder Shine on you crazy diamonds bringen mich, egal wo ich sie höre und mit wem ich mich befinde, zum Weinen. So ist es.  Auch auf meiner werden sie spielen. Zum Abschied von dieser Welt. Das habe ich schon festgelegt. Natürlich gab es auch vieles anderes an Bands. Aber Floyds waren und sind für mich immer noch die Größten. 

Alexander Gorko

Die Kinder hören Pink Floyd

Kiepenheuer & Witsch 

ISBN: 978-3-462-05298-5

20,00 Euro

 

https://www.youtube.com/watch?v=B58zGah_yNU

https://www.youtube.com/watch?v=DPL_SV3n7IU

https://www.youtube.com/watch?v=cWGE9Gi0bB0

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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26. Februar 2021 5 26 /02 /Februar /2021 12:21

Wird man schlau geboren  oder wird man im Laufe seines Lebens schlau. Was kann Erziehung dazu beitragen, dass Kinder intelligent oder gar ein Genie werden? 

Mit diesen Fragen, mit denen sich Wissenschaftler immer wieder beschäftigen, wird man konfrontiert, wenn man diesen Debütroman von Klaus Cäsar Zehrer * Das Genie* liest.  Erwiesen haben Wissenschaftler in zahlreichen Untersuchungen, dass Intelligenz nur zu ca. 60% vererbbar ist.  Alles andere ist dann wohl doch Erziehung und Eigeninitiative. 

Ein erster Roman also und was für ein, für mich jedenfalls, Meisterwerk, dass ich verschlungen habe. Wie kommt man dazu, einen Roman über ein Genie zu schreiben. Dieses Genie, von dem hier die Rede sein wird, hat es tatsächlich gegeben. Sein Name ist William James Sidis. Noch nie gehört? Ich auch nicht. Vorher, vor dem Lesen dieses Buches. Zehrer ist eher zufällig auf ihn aufmerksam geworden. Er hatte sich mal im Internet so Listen angeschaut....*Die zehn Besten...die zehn Größten ... oder sonst wie Größten... Dabei bekam er einen Blick auf die Liste der zehn intelligentesten Menschen unserer Zeit. Darunter finden sich keine anderen, wie Einstein, Isaac Newton oder Leonardo da Vinci. Aber... jetzt kommt es. Auf Platz 1 dieser Liste steht kein anderer wie William James Sidis.  Geboren 1898 in New York City, verstorben 1944 in Boston, Sohn eines jüdischen Auswanderers nach den Pogromen in der Ukraine, dessen Lebensgeschichte kurz angerissen wird.   Platz 1.  Wahnsinn und Niemand, den ich gefragt hatte, kannte ihn. Und auch sonst wird er nie in irgendeinem Zusammenhang erwähnt. Wäre mir sicherlich aufgefallen.  Und auch Zehrer hatte nie zuvor von ihm gehört. Sein Intelligenzquotient wurde zwischen 250 und 300 geschätzt. 

Klar, dass er sich dachte, wenn dieser Mensch alle anderen, die den meisten Menschen geläufig und bekannt sind und mit deren Werke sich der ein oder andere schon beschäftigt hat, überflügelt hat, dann muss das eine äußerst interessante Geschichte sein, der er dann nachgegangen ist. In Deutschland gab es kaum etwas an Informationen über Sidis.  Auch in den USA war Sidis eher in Vergessenheit geraten. In den 70er Jahren dann, fast 30 Jahre nach seinem Tod, hatte man begonnen Material über ihn zu finden. Es gab sogar noch Zeitzeugen, wie Sidis jüngere Schwester, die Einiges über ihren Bruder erzählen konnte.  In den 80er Jahren dann wurde in den USA eine glaubwürdige Biografie über William James Sidis veröffentlicht. 

Und so werden wir in diesem Buch Zeuge wie der 1898 in New York City geborene William James Sidis  das Produkt einer Erziehungsmethode seiner Eltern, hauptsächlich initiiert von seinem Vater, dem Psychiater Boris Sidis, der sich nichts sehnlicher wünschte, als dass sein Sohn begabt war und ihn nach einer von ihm ausgearbeiteten Methode, die im Buch schlicht die *Sidis-Lernmethode* heißt, zum Hochbegabten wird. 

Wie das gegangen ist? Und wie ist sein Leben verlaufen? Begonnen hat die Sidis-Erziehungsmethode schon in der Wiege des kleinen Buben. Wenn Boris Sidis auf seinen da in der Wiege liegenden Sohn schaute, dachte er, eigentlich ist es egal, ob man Sohn oder Tochter hat, hauptsache gesund. In seinem Beruf begegnete er so vielen Defekten im menschlichen Sein, von leichten Nervenüberreizungen bis hin zu schwersten Gehirnschäden, so dass er sich nichts weiter wünschte als das größte Glück, ein von Krankheit verschontes, ganz normales Kind zu haben. Bei diesem Gedanken wiederum stutze er. Normal? fragte er sich. Normal, das war Durchschnitt, nicht weniger, aber eben auch nicht mehr. Damit sollten sie sich zufrieden geben? Er dachte weiter, für alle, deren Talent auch nur um ein weniges über das Mindestmaß hinausragte, konnte Normalität nichts Erstrebenswertes sein. Sein Ehrgeiz musste in die andere Richtung gehen. Sie durften nicht nach unten schauen, auf die Masse, sondern hoch zu den Sternen. Ihre Aufgabe war es nicht, nach Normalität zu streben, sondern nach Vollkommenheit.  Vollkommenheit, das war für Boris Sidis ein großes strahlendes Wort. Danach strebte er. Und vollkommen sollte sein Sohn werden. Er sollte das vollkommene Leben führen.  Sein Sohn sollte eine starke und selbständige Persönlichkeit werden, die sich niemals von anderen herumkommandieren lässt, wie die breite Masse, die nur Marionetten sind und immer das tun, was andere von ihnen verlangen. 

Also begann er sein Konzept der Kindererziehung zu manifestieren. Denn Erziehung, so sagte er, ist die Hilfe von Erwachsenen für ihre Kinder, um ihre eigenen geistigen Fähigkeiten zu entwickeln. Und seltsamerweise war seine Beobachtung, dass Kinder zwar körperlich gediehen, wenn man ihnen vernünftige und gute Nahrung zuführte, jedoch um die Ernährung des Gehirns kümmerten sie sich seltsamerweise weniger. Seiner Meinung nach gab es einfach zu viele geistige Krüppel. Und so einen Geisteskrüppel sollte nicht sein Sohn sein. 

Man musste ihm, William, der als Kind nur *Bobby* genannt wurde, z.B. sofort mit korrekten Ausdrucksweisen konfrontieren.  Wie soll ein Kind fehlerfrei Sprache lernen, wenn man ihn anfangs mit Wörtern wie Dutzidutzi und Dingeling und Eiapopeia konfrontierte. Ein Hund heißt Hund und nicht wauwau. Er will auch nicht *Papa* von seinem Sohn genannt werden, sondern *Vater*. 

Boris Sidis, hängte alles Kitschige, Blumenbilder und andere Dekorationen von den Wänden ab und legte sie zusammen mit Vasen, Deckchen und Sträußchen in den Schrank.  Eine neutrale Atmosphäre sei wichtig, so sagte er seiner Frau Sarah. Ihr Sohn solle nicht von Fremdreizen abgelenkt werden. Er benutze Bildtafeln und sprach vor seinem Sohn laut aus, was auf ihnen zu sehen war: ein blaues Dreieck, zwei gelbe Kreise, drei grüne Quadrate usw... Mit einer Decke hängte er das Fenster zu: es ist dunkel, sagte er ihm, er nahm die Decke ab und sagte: es ist hell...Diese Vorgänge wiederholte  er immer und immer wieder. Das Gehör schulte er, nahm ein Glöckchen, läutete und sagte...das Geräusch kommt von links, dann hielt er das Glöckchen über den Wickeltisch und läutete, sagte dann, das Geräusch kommt von oben. Er trug alle Übungen, die er mit seinem Sohn machte, sorgfältig in ein Notizbuch und machte in der Spalte *Reaktionen* jeweils einen Strich.  Seiner Meinung nach war es wichtig, dass Kinder von Anfang an lernten mit Sinneseindrücken richtig umgehen zu lernen, sie unterscheiden zu können. Das Ergebnis sei, dass das Kind dann schneller als andere mit seinen Sinneswahrnehmungen etwas anfangen und sie früher für komplexere Aufgaben nutzen können. Sein Training verschaffe seinem Sohn einen Entwicklungsvorsprung, von dem er sein Leben lang profitieren werde. 

Ich will auch gar nicht alle Trainingsmethoden, Übungen usw... aufzählen, jedoch waren sie unglaublich vielschichtig und zeigten schnell ihre Wirkung.  In einem Alter, in dem Kinder mit Kinderbüchern konfrontiert werden, Kinderlieder gemeinsam mit den Eltern sangen wurden Bobby griechische Sagen vorgelesen. Boris Sidis, achtete immer darauf, dass alles das, was  er mit seinem Sohn und wie er es  tat, absolut spielerisch geschah. Er wollte keinen Druck ausüben. Erzieher oder Lehrer, die einem Kind Wissen mit dem Rohrstock einbläuen wollten, seien in seinen Augen Versager, weil es ihnen nicht gelingt, die Lust am Lernen zu wecken.

Jedoch, wie man dann nach einiger Zeit feststellen kann, litt der kleine Bobby schon früher unter dem Leistungsdruck, der auf ihn ausgeübt wurde. Er wollte natürlich wie alle Kinder seinen Eltern gefallen. Das war sein Antrieb einzig und allein.  Und er entsprach auch den Erwartungen seines Vaters. Für seine Eltern wurde er das Vorzeigeobjekt der Sidis-Lern-Methode, ein Wunderkind.  Wenn es Liebe zwischen ihm und den Eltern gab, bestand die nur darin, den Anforderungen zu genügen. Erfüllte er diese zeigte sich die Liebe im Stolz seiner Eltern, die jedoch, für mich jedenfalls beim Lesen des Buches, sich eher darauf bezog, dass der Vater eher stolz auf sich war, dass seine Lern-Methode den entsprechenden Erfolg zeigte, eher weniger auf den Sohn als Mensch bezogen. 

Bobby las mit 18 Monaten selbständig Zeitungen. Mit gerade mal 4 Jahren liest er Homer und Caesar im Original. Kurze Zeit später spricht er fließend Russisch, Französisch, Deutsch, Hebräisch , Türkisch, Armenisch sowie Vendergood, eine von ihm selbst, ähnlich wie Esperanto, erfundene Kunstsprache.  Zudem schrieb er schon Bücher.  Als er in die Grundschule eingeschult werden sollte, zeigten sich seine Eltern empört und die Lehrer wussten nichts mit diesem Wunderkind anzufangen. Er blieb einsam, ohne Freundschaften und absolvierte die sieben Grundschuljahre in sieben Monaten, die High School nach drei Monaten. Mit acht Jahren hatte er schon die Zugangsberechtigung zum Massachussets  Institut of Technology sowie zum Medizinischen Institut in Harvard in seinen Händen. Aber auch diese in den USA besten Eliteuniversitäten wussten nichts rechtes mit ihm, dem Hochbegabten,  anzufangen. Er wartete drei Jahre lang um endlich studieren zu können. Mit seinen 11 Jahren hielt er an der Harvard University einen Vortrag über die 4. Division, und das vor den seinerzeit hoch renommierten Professoren, die ihren Augen und Ohren nicht trauen wollten. Das machte er mit links wie wir zu sagen pflegen. In seiner Freizeit löste er mal eben so die Theorie von schwarzen Löchern. Wörtlich sagte er:

"Bei der Ausarbeitung meiner Theorien haben die Poleyderwinkel des Dodekaeder, die in zahlreichen Problemstellungen eine Rolle spielen, eine wertvolle Hilfe geleistet. Einige der Dinge, die ich über die vierte Dimension herausgefunden habe, werden zur Lösung vieler Probleme in der Ellipsengeometrie beitragen". 

Es klingt wie ein Märchen und scheinbar wie ein geglücktes Leben, wenn man mit einer solchen Intelligenz  gesegnet ist und einem im Grunde alle Türen offen stehen. Das Erziehungsexperiment seines Vaters, Boris Sidis, dem anerkannten Professor für Psychotherapie, der sich, wie wir auch lesen werden, heftigst dann mit Freuds Theorien befasst und sie nicht nur ablehnt, sondern auch bekämpft, was ihm zum Verhängnis wird in seiner eigenen beruflichen Karriere, ist zwar gelungen...aber...

Was ist aus dem Leben des Menschen William James Sidis geworden. Wie ist er mit all dem umgegangen. All das lesen wir auf 649 Seiten, hochspannend, mitreißend und vor allen Dingen mitfühlend. 

*Ich möchte ein perfektes Leben führen, sagte er. Das perfekte Leben aber lässt sich nur in Abgeschiedenheit führen".  Menschenmengen hat er immer gehasst. Auch die Journalisten, die ihn von jungen Jahren an verfolgen, ihn berühren, anschauen, über ihn schreiben wollen, immer neue Wunder von ihm verlangen, hasst er wie die Pest und muss sich vor ihnen verbergen. Diese Journalisten, die ihm dann am Ende das Leben schwer machen und gegen die er gerichtlich vorgeht, aber den kürzeren zieht. 

Man leidet mit ihm, dem Kind, dem jungen Mann und dann als erwachsenen Mann einfach mit. Denn er erwies sich in allen Bereichen des menschlichen Lebens, wo es auf eine andere Form von Intelligenz ankommt, nämlich der intuitiven, der Menschlichkeit, die er nie hat kennen lernen dürfen, weil ihm Liebe um seiner selbst willen, gefehlt hatte, als lebensunfähig. Welche Torturen er durchlitten hat, wie er damit umgegangen ist und was er tatsächlich aus seinem Leben mit all dem, was er konnte, wusste, wozu er fähig war, gemacht hat, aber das will ich nicht verraten, all das lesen wir und es machte mich sprachlos.

William James Sidis, ein Genie, ein Wunderkind, dessen Intelligenzquotient nie wieder von irgendeinem anderen  Menschen erreicht wurde, starb 1944 an einer Gehirnblutung. 

Worauf kommt es im Leben an? Was ist wirklich wichtig. Wie geht man in der Erziehung seiner Kinder heran, ohne Druck und Leistungszwang auszuüben. Aber vor allen Dingen, wie schafft man es, seine Kinder zu klugen und selbständig denkenden Menschen heranzuziehen, die es schaffen ihren Platz in der Gesellschaft zu finden, ohne sich den Massen gleichzustellen und eigenständig zu bleiben, aber auch ohne einsam zu sein und die für sie richtigen Menschen an ihrer Seite zu haben. Aber auch Fragen über das Bildungssystem kann man stellen, die man nicht ohnehin sich schon immer mal gestellt hat, wenn man dabei zuschauen konnte, was in Schulen und Universitäten so abläuft. 

 

Und ja...je mehr der Mensch kann und weiß, bedeutet nicht immer, glücklicher zu sein. Vieles kann sich mit Wissen oder mit Geld nicht erkauft werden. Liebevolles Miteinander, Empathievermögen , Freundschaften, Tatkräftigkeit und der Freude am eigenen Sein, das sind meines Erachtens die Juwelen für das eigene Leben. 

In Köln pflegen wir ja zu sagen...de Hauptsache is, dat Hätz is jood... da ist was dran... wobei ich eine Mischung aus allem, klug sein und einen freundlichen Blick auf das Leben in der Welt und das Gegenüber als gelungen betrachten würde.

Ich lege dieses Buch wirklich ans Herz all derer, die gerne lesen und dabei viel mitnehmen möchten und Anregung zum eigenen Nachdenken erleben wollen. 

 

Klaus Cäsar Zehrer 

Das Genie

Diogenes Taschenbuch 

ISBN: 978-3-257-24473-1

14,00 Euro 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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17. Februar 2021 3 17 /02 /Februar /2021 13:46

Da ich die letzten Tage immer mal wieder in einem Buch von Arno Gruen gelesen habe, möchte ich heute meine geneigten Leser auf diesen von mir geschätzten Psychoanalytiker, der leider am 20. Oktober 2015 im Alter von 92 Jahren verstorben ist, aufmerksam machen.  Für mich war er einer der wichtigsten Menschen, die unserer Welt etwas zu sagen hatte. Leider wurde er von den Medien, nach meiner Beobachtung, kaum beachtet. Selber war er kein Mensch, der sich aufgedrängt hat. Er betrieb seine Wissenschaft, schrieb seine Bücher, darin sagte er alles, was er zu sagen hatte zum menschlichen Sein in der Gesellschaft. 

Arno Gruen ist für mich also nicht irgendwer. Er ist der Autor von Büchern wie "Der Verrat am Selbst", "Der Wahnsinn der Normalität" oder "Der Verlust des Mitgefühls". Es sind diese Bücher, die ich immer wieder gelesen habe und lesen werde und deren Gedankenwelt mich seit Jahren beschäftigen. 

Wenn man versucht, diesen Arzt, Wissenschaftler und Schriftsteller mit ganz wenigen Worten zu charakterisieren, so verfällt man auf die Aussage, dass Arno Gruen im Wesentlichen zwei verschiedene Existenzweisen des Menschen sieht. Die erste steht im Zeichen der Macht, ist von Beherrschung und Kontrolle, von Abstraktion, von Stärke, von Erfolg im Wettbewerb geprägt. Die zweite Existenzweise basiert auf Liebe, auf Mitgefühl, auf Zärtlichkeit und auf dem Begriff einer Autonomie, der nichts mit der Behauptung der eigenen Wichtigkeit und Unverletzlichkeit zu tun hat, sondern der eine nicht entfremdete Harmonie mit dem eigenen Selbst zum Ausdruck bringt. Diesem Selbst sind Erfahrungen der Schwäche, der Hilflosigkeit, der Angst und des Schmerzes nicht fremd und verhasst, sondern als unvermeidliche Bestandteile des menschlichen Lebens wohl vertraut. Überflüssig zu sagen, dass Arno Gruen ein unermüdlicher Verfechter der zuletzt genannten Orientierung ist. 

Arno Gruen ging es nie um Gefühlsduselei. Und man glaubt es ihm einfach, diesem Menschen, der als kleiner Junge mit seiner Familie aus dem Hitler-Staat in die USA geflüchtet ist. Wenn man ihn an einem Rednerpult oder in einem Video zuschaut, kann man erkennen, dass er in jedem Augenblick den Ernst und die Sorgfalt eines Wissenschaftlers ausstrahlt. Der auf jegliche Show-Elemente verzichtet, der nicht einmal zur Auflockerung ein Witzchen einstreut. Das ist man nicht gewöhnt. Es handelte sich um einen Redenden oder Gesprächspartner, der sich keinerlei Sorgen um seinen "Marktwert" zu machen schien. Er wirkt glaubwürdig, die sachliche, fast demütige Form seines Auftritts korrespondiert vollkommen mit den Inhalten, die er teilweise schon seit Jahrzehnten zu vermitteln sucht. Man bemerkt mit einer Mischung aus Erstaunen und Dankbarkeit, dass in einem akademischen Umfeld plötzlich wieder Begriffe wie Liebe und Einfühlungsvermögen eine bedeutsame Rolle spielen. Welche angeblichen kritischen Geister in Deutschland haben es nach den 60er Jahren noch gewagt, sich in einer solchen Art und Weise zu äußern? 

Arno Gruen ist jedoch kein Ideologe, der da vorliest, keiner, der Realitäten setzen will. Sondern jemand, dem es in seinem ganzen Leben darum zu tun war, der menschlichen Wirklichkeit nachzuspüren. Sein Ausgangspunkt ist das Individuum, das er nicht vollständig von den Zwängen und Eigengesetzlichkeiten des Systems bestimmt sieht und dessen Wollen ein sehr persönliches Geheimnis sein soll. Die größte Gefahr für den Einzelnen sieht Arno Gruen in verzerrten und reduzierten Realitätsbegriffen, die nicht selten manipulativ und wie eine Waffe eingesetzt werden  - zum Beispiel von Erziehern. Wenn angepasste Menschen gern von freier Entscheidung oder von Eigeninitiative reden, sieht Arno Gruen häufig nur Gehorsamsakte, mit denen eine allgegenwärtige Angst beschwichtigt werden soll. Die Angst davor, den Leistungserwartungen nicht zu genügen, die Angst vor dem Versagen. Um Ängsten und Gefühlen der Schwäche aus dem Weg zu gehen, findet häufig eine Identifikation mit der Welt der Macht statt. Man halluziniert eine Teilhabe an der Macht und sucht Linderung seiner Leiden ausgerechnet bei denen, die einen überhaupt erst zum Leiden brachten. Stattdessen empfiehlt Arno Gruen der eigenen menschlichen Wahrnehmungsfähigkeit zu vertrauen und davon ausgehend immer wieder neue Lebenserfahrungen zu machen. 

Arno Gruen war eng mit Henry Miller befreundet und wurde nach eigener Aussage stark von diesem beeinflusst. Von Miller stammt das Zitat: "Arno Gruen ist der erste Psychologe, der von Nietzsche geschätzt worden wäre". Dieses Urteil erscheint zunächst überraschend: Nietzsche hatte doch einerseits eine ausgeprägte Abneigung gegen Schwäche, und andererseits nahm für ihn das Streben nach Machterweiterung fast den Rang eines Naturgesetzes ein. Berührungspunkte der beiden sehe ich jedoch in der Hochschätzung von Individuum, Authentizität und Lebendigkeit. 

Es fällt leicht Arnos Gruens Gedanken zu folgen in seinen Büchern oder in seinen Gesprächen. Doch immer mal wieder drängte sich mir die Frage auf, ob der ganze Betrieb der Welt von seinen Thesen Kenntnis nimmt. Wohl nur Wenige, wenn man sich darauf bezieht, wie wenig er von der Medienwelt beachtet wurde. Doch ist es jetzt fast 6 Jahre nach seinem Tod immer möglich, sich mit diesen auseinanderzusetzen und seine Bücher zu lesen, und  Gesprächen, die man bei you tube oder anderen Medien findet, zu lauschen. Es lohnt sich. Jedesmal wenn ich in eines seiner Bücher schaue oder mir etwas anhöre, kommt mir der Gedanke, gibt es noch Hoffnung? 

 

Der Verrat am Selbst, Arno Gruen .... https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13514175.html

Der Wahnsinn der Normalität, Realismus als Krankheit, Arno Gruen  

Der Verlust des Mitgefühls, über die Politik der Gleichgültigkeit

 Das Lesen lohnt sich, sowie alle von ihm erschienenen Bücher. 

https://de.wikipedia.org/wiki/Arno_Gruen

https://www.deutschlandfunkkultur.de/nachruf-auf-arno-gruen-vordenker-einer-politik-des.1013.de.html?dram:article_id=334815

https://www.deutschlandfunkkultur.de/zum-tod-von-arno-gruen-warum-sind-wir-so-gerne-gehorsam.970.de.html?dram:article_id=304094

 

 

 

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15. Februar 2021 1 15 /02 /Februar /2021 12:28

Das harte Geräusch heruntersausender Rollläden dringt in die Stille seiner Wohnung. Oh, tatsächlich, schon wieder 18.45 Uhr. Ein Blick aus dem Fenster zeigt ihm, dass sich ein Hauch von  Dunkelheit über die Landschaft gelegt hat. Die Leutchen unter ihm, seine Hausgenossen, sind in Sachen Rollladen-Disziplin gnadenlos. Der genaue Zeitpunkt des Herunterlassens ist strikt an die draußen herrschenden Helligkeitsverhältnisse geknüpft. Abweichungen von dieser Regel konnte er nur in ganz seltenen Ausnahmefällen beobachten, bei Verspätungen im Bereich von einer halben Stunde muss ein sehr triftiger Grund vorgelegen haben. 

 

Am frühen Morgen geht es ebenfalls sehr genau zu, allerdings greift dann eine andere Dienstvorschrift. Obwohl es sich bei seinen Mitbewohnern um Rentner handelt, gehen jeden Morgen um Punkt 7.00 Uhr zahlreiche Rollläden des Hauses hoch, im Sommer wie im Winter,  an Werk-, Sonn- und Feiertagen gleichermaßen. Aber keinesfalls von einer Zeitschaltuhr gesteuert, sondern größtenteils im Handbetrieb, einige per Knopfdruck. Für die Nachbarschaft ist dies nicht nur ein sehr zuverlässiges Weck- Zeitsignal, sondern auch das Zeichen dafür, dass das Haus jetzt wieder für den allgemeinen Publikumsverkehr geöffnet, die Dienstbereitschaft sichergestellt ist. 

 

Geburtstagsfeier bei Muttern. Ein bisschen bucklige Verwandschaft, ein paar interessante Diskussionen und vor allen Dingen: Kaffee und leckerer Kuchen. Ungefähr 90 Minuten nach dem Kaffeeklatsch heißt es unerbittlich: Zeit fürs Abendbrot! Es ist etwa 18.00 Uhr, er fühlt sich wie in einer Klinik oder in einem streng geführten Altenheim. Im Prinzip ist er ein sehr guter Esser, er kann schon Unmengen vertilgen, wenn es darauf ankommt, aber dieses fahrplanmäßige Abendbrot kommt ihm doch 2-3 Stunden zu früh. Er versucht, seine Meinung einzubringen, kann aber doch nicht mehr als eine Viertelstunde herausschlagen. Die Abfertigung darf nicht ins Stocken geraten , die Zugereisten wollen ja auch wieder zeitig nach Hause fahren, das Bubchen  muss ins Bett...Oder wie die ausgedachten Argumente auch lauten mögen. 

 

September, Altweibersommer, es ist heiß. Im Supermarkt hält Weihnachten Einzug, in den Regalen tauchen Lebkuchen und Spekulatius auf, zum Teil wirklich sehr preisgünstig. Wahrscheinlich lautet die dahinterstehende Philosophie: Das Zeug muss raus, wir können nicht ewig damit warten. FAst unnötig zu sagen, dass man 3 Tage vor Weihnachten in demselben Geschäft weder Lebkuchen noch Spekulatius bekommt. Tja, wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Sein Hinweis an die Angestellte, dass ein Hund vollkommen außerstande ist, einen Wurstvorrat anzulegen, wird mit einem Lachen beantwortet. Es sind wohl nur wenige Hunde in der Kundschaft vertreten, stattdessen hat man es wohl in erster Linie mit disziplinierten Verbrauchern zu tun, die im Spätsommer ihre Spekulatiusvorräte anlegen und diese bis Heiligabend unangetastet lassen. 

 

Dezember 2015. Anhaltend schlechtes Wetter, fast jeden Tag kalter Regen, oft mit Eis oder Schnee vermischt. Ein paar Häuser weiter sind zwei Bauarbeiter am Werk, eine Garage soll entstehen, mit einem Keller-Unterbau und dazugehörigem KFZ-Lift. Bei den Tiefbauarbeiten ist Beton im Weg, der zum Teil mit einem Presslufthammer abgetragen werden muss. Die beiden tapferen Recken stehen Tag für Tag in ihrem selbst ausgebaggerten Erdloch, kämpfen gegen den Beton, gegen das Regenwasser und gegen die Kälte an. Ihr Arbeitstag ist sehr lang, am Abend werden Scheinwerfer eingeschaltet, um noch ein paar Stunden zu gewinnen. Auch am Samstag arbeiten sie. Sie arbeiten sehr effektiv, er staunt über die schnellen Fortschritte, die gemacht werden. Und sie schaffen es: Kurz vor Weihnachten, nach 3-4 Wochen intensiver Bauarbeiten, ist der Rohbau fix und fertig, sogar die Dachbedeckung wurde von den beiden angebracht. Ihm hat diese Leistung schwer imponiert. Aber ihm hat schon damals etwas geschwant, und er sollte Recht behalten. Heute, über ein Jahr nach der Fertigstellung des Rohbaus, hat noch kein einziges Auto die Schwelle dieser Garage überquert. Vielleicht müssen noch ein paar Details geklärt werde , vielleicht hat man doch keinen geeigneten Garagenmieter gefunden, oder der Besitzer hat bisher keine Zeit gefunden, sich um die Sache zu kümmern. 

 

Ihn verblüfft auch oft die Rasanz, mit der viele Leute ihren Lebenslauf abwickeln. Er erinnert sich noch gut daran, wie er seit langer Zeit einmal wieder einen Schulkameraden auf der Straße traf. Der konnte sich das Lachen bei seinem Anblick nicht verkneifen, meinte dass er noch exakt so aussehe wie 15 Jahre zuvor als Schulbube. Sein Äußeres hatte sich ziemlich verändert, war er am Ende durch die Hölle gegangen? Er berichtete ihm davon, dass er eine Familie gegründet hat, mit Kindern und so weiter, aber auch, dass leider die Ehe inzwischen längst geschieden ist. Er war baff, ihm ging das alles viel zu schnell. Manchmal denkt er, dass man die Lebenserwartung einer Riesenschildkröte haben müsste, so an die 180 Jahre. Dann könnte man sich ganz anders in die Dinge hineinknien, hätte als Mensch eine ganz andere Einarbeitungszeit zur Verfügung und könnte in seinen Erkenntnissen sicher sehr viel weiter kommen. 

 

Nachtmenschen sind ihm sympathisch, sie hinken immer ein bisschen hinterher. Welche Wohltat, wenn bei der Zeitumstellung im Herbst der Tag einmal 25 Stunden hat! Aber er will nicht an den biologischen und pyhsikalischen Grundtatsachen des Lebens rütteln. Der Mensch hat nun mal eine Lebenserwartung  von ca. 80 Jahren und die Erde braucht nun mal 24 Stunden, bis sie sich einmal um ihre Achse gedreht hat. Trotzdem will er die Langsamkeit loben. Und weil Niemand mit seinen schrägen Ansichten gern ganz allein dasteht, denkt er an ein Zitat, das von Friedrich Nietzsche stammt: 

"Du liefst zu rasch: Jetzt erst, wo du müde bist, holt Dein Glück dich ein"

 

 

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12. Februar 2021 5 12 /02 /Februar /2021 12:07

Lebensfeuer oder Wärmetod?

 

Die Zeitung von Heute! Brandaktuell und druckfrisch, begehrt und viel beachtet. Im Vergleich dazu gelten ältere Ausgaben derselben Zeitung als Altpapier. Trotzdem habe ich ein kleines Experiment veranstaltet und mir ein altes Exemplar der *Zeit* vorgeknöpft. Nicht die Zeitung von gestern, sondern eine Ausgabe vom August 2008. Und siehe da, gänzlich verloschen war die Glut der Texte doch nicht. Ich habe etwa 1 Stunde genüsslich in der alten Zeitung geschmökert und hatte nur selten das Gefühl , dass ich mir olle Kamellen zu Gemüte führe, nach denen kein Hahn mehr kräht. 

 

Begierig stürzt sich der Blogger auf jeden neuen Beitrag. Lauern auf die Bombe, die da möglicherweise gerade im Begriff ist, hoch zu gehen. Er gibt seine Kommentare dazu, ereifert sich gelegentlich. Nach sieben Tage verschwindet der Beitrag aus den aktuellen Listen, wird dann zum Privatblog. Und prompt versiegt der Strom der Zugriffe, das Thema gilt als abgehakt, die Karawane der Blogger zieht weiter und wendet sich anderen Artikeln zu. 

 

Stößt man nach einiger Zeit auf das Inhaltsverzeichnis eines Bloggers, so werden Erinnerungen wach, man klickt mal da und dort. Und stellt fest, dass viele Beiträge keineswegs an einen bestimmten Zeitpunkt gebunden sind und auch unabhängig vom öffentlichen Disput einen Reiz in sich tragen. 

 

Die meisten Kinos schmücken sich mit der Bezeichnung *Erstaufführungstheater*. Ein Film *kommt in die Kinos*, wird dann heftig beworben und innerhalb von einigen Wochen verwertet. Es scheint wie ein Adelsprädikat zu sein, dass es sich um eine nagelneue Produktion handelt. Anschließend verschwinden die Filme in der Versenkung, wenn man Glück hat, kann man sie nach einigen Jahren mal wieder in einem Programmkino sehen. Wenn das Fernsehen ältere Filme bringt, wird dies gern abschätzig als *Wiederholung* bezeichnet. Tatsache ist aber, dass zu jeder Zeit viele Filme produziert werden und dass man nur die wenigsten davon kennen lernt. 

 

Manchmal bin ich dankbar, dass ich kein professioneller Journalist bin. Diese ewige Tagesaktualität würde mich fertig machen. Themenwechsel im Stundentakt. Die neue sozialdemokratische Troika (die SPD wählt ihre neue Führung), Flexibel in alle Richtungen (die Krise trifft den Arbeitsmarkt), Gefahr im Salat (auch ohne Pestizide kann das Grünzeug tückisch sein), ist das deutsche Fernsehen Blödsinn (von Dieter Bohlen lernt man darin genauso viel wie von Marcel Reich-Ranicki), usw.usw.. 

 

Millionen von Themen, und der Journalist ist für alle zuständig. Im Banne der drei M - Moment, Meinung, Mode - muss er auf jeden Zug aufspringen und kann nirgends längere Zeit verharren. Der Ofen der Aktualität wird tüchtig angeheizt, und das eine oder andere Strohfeuer kommt da gerade recht. Glücklich der Blogger, der seine Themen frei wählt und der auch selbst bestimmt, wie viel er schreibt und wie lange er bei einer Sache verweilt. 

 

Was ist das *Aktualität* Die Wortherkunft ist wohl das lateinische *actus* für Handlung. Sicherlich spielt die Gleichzeitigkeit und das Unabgeschlossene eines Geschehens in den Begriff mit hinein. Fast noch wichtiger aber scheint mir die Anteilnahme zu sein, die Tatsache, dass sich viele Leute zur selben Zeit über ein Thema aufregen. Man hat es wohl mit einer unauflöslichen Verquickung von Objekt- und Beziehungsebene zu tun. Während die Sache an sich nur wenige vom Hocker haut, gewinnt sie oft gewaltig Bedeutung, wenn sie als Vehikel für Kommunikation, Diskussion und Beziehungspflege dient. 

 

Zwischen diesen beiden Polen bewegen wir uns ständig, zwischen dem Gegenstand der Diskussion und dem weiten Feld der menschlichen Beziehungen. Jedes Sachthema verödet sehr schnell, wenn man bei der Beschäftigung mit ihm die menschliche Realität aus dem Blickfeld verliert. Umgekehrt ist jeder Beziehungsprozeß in Gefahr, oberflächlich, impulsiv und chaotisch zu werden, wenn er nicht mehr in der Zeit verwurzelt ist, wenn keine ernsthafte Auseinandersetzung  mit Sachthemen stattfindet. Geistesleben, Sprache und Handlungen, die sich letztendlich doch immer in der Gegenwart und im Spannungsfeld der lebendigen Sache entfaltet. 

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6. Februar 2021 6 06 /02 /Februar /2021 14:53

Sunbeam meet Goblin. Ein magischer Augenblick, die Bewegung zweier Welten.

 

Der letzte Sonnenstrahl

 

Als die Sonne ihre Tagesreise beendet hatte, 

blieb ein letzter Sonnenstrahl etwas zurück von seinen Geschwistern.

Dämmerung hatte sich schon über den Wald gelegt, 

und auch der letzte goldene Sonnenstrahl wollte gerade weichen,

als er einen Troll auf sich zukommen sah,

der wohl eben aus seiner Höhle gestiegen war.

Dieser Troll war eigentlich lichtscheu,

er durfte niemals vor Sonnenuntergang herauskommen.

 

Die Beiden schauten einander an.

Der Troll spürte in seinem Herzen eine heiße Sehnsucht.

Er sagte: "Du verbrennst meine Augen,

aber niemals in meinem Leben

habe ich so etwas Wunderbares gesehen!

Es ist mir gleichgültig, wenn Dein Glanz mich erblinden lässt, 

in der Dunkelheit kann man gut leben.

Komm mit mir, ich zeige Dir den Weg zu meiner Höhle,

und ich nehme Dich zu meiner Geliebten".

 

Der Sonnenstrahl antwortete: "Du süßer kleiner Troll,

die Dunkelheit nimmt mir das Leben,

und ich will nicht sterben.

Wenn ich nicht sofort ins Licht fliege,

werde ich keinen Augenblick mehr zu leben haben!"

 

So entschwand der schöne Sonnenstrahl

Aber noch heute, wenn sich der Troll des Nachts herumtreibt,

denkt er: Wieso ist der eine ein Kind des Lichts,

während der Andere die Dunkelheit liebt?

 

Original: "Päivänsäde ja menninkäinen"

Text und Musik: Reino Helismaa (1913-1965)

Freie Übersetzung aus dem Finnischen

 

https://www.youtube.com/watch?v=uogBJgnXgdc

 

 

 

 

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3. Februar 2021 3 03 /02 /Februar /2021 12:23

Höhenflug

 

Auf den ersten Blick ein Spruch, den man gut findet. Man muss nur sein Bewusstsein schärfen und befreien, dann wird der ganze Mensch schon nachfolgen - auch in seinem Verhalten. Der Blogger schätzt in der Regel die Sprache hoch, ist stolz auf die Leistungen des denkenden Bewusstseins. Es ist für ihn doch ein schöner Gedanke, dass man über das Denken die Gesamtpersönlichkeit beeinflussen kann. 

 

Aber ausgerechnet ein ganz großer Meister in den Disziplinen des Formulierens und des bewussten Denkens, nämlich Friedrich Nietzsche, hat uns gelehrt, dass es sich beim Bewusstsein nur um eine dünne Oberflächenschicht handelt, die auf dem gewaltigen Felsen des Unbewussten und auf der Physiologie der Gesamtpersönlichkeit aufsitzt. Dies rückt die Proportionen zu recht, sagt etwas darüber aus, wie die verschiedenen Schichten der Persönlichkeit zu gewichten sind. Das Bewusstsein macht demnach nur einen kleinen, aparten Teil des Menschen aus. Das bewusste Ich kann also auf keinen Fall als der uneingeschränkte Herr im Hause unserer Persönlichkeit angesehen werden. 

 

Nietzsche formuliert damit die dritte große Kränkung, die dem Menschengeschlecht zugefügt wurde. Auf die kopernikanische Kränkung, der zufolge die Erde keinesfalls das Zentrum der Welt darstellt, folgte die Darwinsché Kränkung, die besagt, dass der Mensch dem Tierreich entstammt. Und schließlich als Drittes die oben genannte Aussage, die üblicherweise mit dem Namen Freuds in Verbindung gebracht wird und die verdeutlicht, dass es Kräfte im Menschen gibt, die stärker sind als das bewusste, Projekte machende Ich.

 

Trotz dieser ungleichen Kräfteverhältnisse im Haushalt des menschlichen Charakters neigt das bewusste Denken gelegentlich zum Vagabundieren, entfernt sich dann unter Umständen weit von der Ausgangsbasis der Gesamtpersönlichkeit. Nicht immer sind die unterschiedlichen Sphären des menschlichen Seelen- und Geisteslebens in einem freundschaftlichen und leichtflüssigen Austausch begriffen, wie es eigentlich wünschenswert wäre. Bei Philosophen sieht mann all zu oft geradezu ein Qualitätskriterium darin, ob sie in der Lage sind, die von ihnen geäußerten Bewusstseinsinhalte auch zu leben und zu verkörpern. Ist der genannte innere Austausch blockiert, dann kann eine Spaltung vorliegen. Es steht dann zu erwarten, dass der Mensch - angetrieben von seinem Bewusstsein - einen Anlauf zu einer Handlung unternimmt...um dann feststellen zu müssen dass er im Begriff ist, etwas zu tun, das nicht im Einklang mit seiner Wesensart steht. Natürlich wird er dabei keine gute Figur machen, sein Wesen wird ihn ausbremsen, dass vom Bewusstsein angestrebte Ziel wird er verfehlen. 

 

Der Blogger ist daran gewöhnt, sich locker in der virtuellen Welt zu bewegen. Dabei pflegt er zumeist einen rein sprachlichen Austausch. Und er ist stolz darauf, freut sich daran. Sind es doch genau die Sprache und das bewusste Denken, die den Menschen vom Tier unterscheidet. Was kann schöner und weniger oberflächlich sein, als einen Menschen über sein Inneres kennen zu lernen? Das Innere, das man bei einem rein verbalen Kontakt kennen lernt, ist häufig nur der bewusste Anteil eines in Wahrheit sehr vielschichtigen und komplexen Charakters. 

 

In dieser Vielschichtigkeit und Komplexität des Charakters liegt natürlich auch ein großer Reichtum, der oft weit über das hinausgeht, was der Mensch verbal von sich gibt. Im Charakter manifestiert sich das Individuum, seine Besonderheit, seine Liebenswürdigkeit, seine ganze Grundorientierung gegenüber dem Leben. 

 

Zum Abschluss soll wieder Nietzsche das Wort erhalten, der für die charaktergebundenen Individuen einen Trost parat hat. Er empfiehlt den Menschen, nicht an ihrer Wesensart zu verzweifeln, sondern in dieser eine Chance zu sehen, ein Mittel, "eine Leiter mit tausend Sprossen". In der Tat ist es wohl so, dass jeder Charakter seine ganz speziellen Chancen in sich birgt. Diese sollte man ausnutzen und dabei nicht vergessen, dass ein wahrer Höhenflug immer  einer des GANZEN Menschen ist. 

 

Free your mind and your ass will follow

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2. Februar 2021 2 02 /02 /Februar /2021 13:49

Korrekt. Genau. Prinzipientreu.

 

Karl-Otto betrat das Fast-Food-Restaurant. Während des zurückliegenden Tages hatte er sich mit kniffligen Problemen auseinandergesetzt, war deren Lösung nach seinem Empfinden jedoch keinen Milimeter nähergekommen. Daraus resultierte bei ihm eine unzufriedene und gereizte Stimmung. In einer solchen Verfassung kam es vor, dass er gegen seine sonstige Gewohnheit seine Aufmerksamkeit auf die Aussenwelt richtete. Er hatte dann oft das Gefühl, den stumpfsinnigen Betrieb zu durchschauen.

 

Sofort nahm er wahr, dass sich an den Kassen lange Warteschlangen gebildet hatten. Er lenkte seinen Blick hin zu den Mitarbeitern, die hinter der langen Theke mit der Kundenabfertigung befasst waren. Vier Männer, eine Frau. Klare Sache, dachte er, bei der Frau anstellen, die sind immer schneller als die Männer. In demselben Moment sah er, dass die Mitarbeiterin drei leere Papiertüten vor sich aufbaute. Das deutete auf eine grössere Sache hin. Es war nun klar, dass diese Kasse für ihn nun doch nicht in Frage kam.  Daneben ein dunkelhäutiger Angestellter. Karl-Otto erinnerte sich, dass dieser zügig arbeitet.  Aber etwas schien mit der Kasse nicht zu stimmen, der Schichtführer war hinzugekommen und malträtierte mit leicht verzweifeltem Gesichtsausdruck die Tastatur. Zu riskant, das kann dauern, dachte Karl-Otto und entschied sich für einen ihm unbekannten jungen Kerl, an dessen Kasse auch die wenigsten Leute anstanden. Er stellte sich hinten an, und zwar sauber und eindeutig: Es muss vollkommen klar sein, zu welcher Warteschlange er gehörte. 

 

Jetzt cool bleiben, in Ruhe weiter beobachten. Karl-Otto erwartete keinen Laufschritt von den Mitarbeitern des Restaurants. Aber er war davon überzeugt, dass eine gewisse Ökonomie und Effiziens des Bewegungsablaufs der Sache doch sehr förderlich sein kann. Ihm kam es jetzt vor, als ob dieser junge Angestellte doch einen Tick zu ostentativ hinter der Theke entlang schlurft. Der Weg zur Friteuse zieht sich. Vielleicht sollte man dies beim nächsten Mal bei der Wahl der Warteschlange mit berücksichtigen, die Kassen auf der linken Seite sind mit kürzeren Wegstrecken verbunden. Während Karl-Otto dies bedachte, kehrte die männliche Thekenfachkraft zu ihrer Kasse zurück. Nun war für Karl-Otto der Moment gekommen, um abzuchecken, wie es um die dienstliche Kommunikation bestellt ist. Immerhin, die Deutschkenntnisse des jungen Mitarbeiters schienen passabel zu sein. Allerdings machte der Kunde an der Spitze der Warteschlange einen unentschlossenen Eindruck. Karl-Otto hoffte, dass sich kein größeres Beratungsgespräch entwickelte. 

 

Allmählich hatte sich die Warteschlange verkürzt.Es waren vor ihm nur noch zwei junge Frauen asiatischer Herkunft verblieben, die offensichtlich zusammengehörten. Der Mensch hinter der Theke ließ jetzt seinen ganzen Charme spielen oder das, was er dafür hielt. Karl-Otto hatte stellenweise den Eindruck , dass sachfremde Themen verhandelt wurden, denn es war wohl kaum anzunehmen, dass die jungen Damen bei einer normalen Bestellung so kichern würden. Drei strahlende Gesichter vor seiner Nase, aber die Abfertigung machte keine rechten Fortschritte. Er musste registrieren, dass die Thekenfachkraft nun auch ihre Stadtkenntnisse in die Waagschale warf. Handelt es sich hier etwa um einen Tourist Info Schalter, fragte sich Karl-Otto, jetzt ziemlich gereizt. Er wusste, dass es in einem solchen Moment nicht opportun ist, seinen Unmut laut werden zu lassen. Er hatte es schon erlebt, dass ein Mitarbeiter sich dafür gerächt hatte, indem er just in dem Moment, als Karl-Otto an der Reihe war, einen unvermeidlichen und ausgedehnten Gang zur Toilette einschob. Also lieber ruhig bleiben. Nebenbei apportierte der Restaurant-Mitarbeiter nun doch immer ein paar Menübestandteile auf das bereitstehende Tablett. Plötzlich die Erlösung: 11 Euro 40, verkündete die Thekenfachkraft. Dieses Kommando schien für die beiden Asiatinnen etwas überraschend zu kommen, denn erst jetzt nahmen beide ihre Rucksäcke ab und kramten nach ihren Geldbörsen. Nachdem sie sich auf die Zusammenlegung einiger Münzen geeinigt und die Rechnung beglichen hatten, folgte einer überaus herzliche Verabschiedung von der ortskundigen Thekenfachkraft . Karl-Otto war nun endlich an der Reihe!

 

Karl-Otto war sofort hellwach. Er wusste, dass er jetzt gefordert ist. Konzentriert, gut hörbar und redundanzarm wollte er seine Bestellung an den Mann bringen. 

 

Karl-Otto: Nabend

Die Thekenfachkraft nickte.

Karl-Otto (laut und deutlich): 1 Vorteils-Menü mit einem Happy Chicken Achter, mit Pommes Frites und Cola-Light.

Karl-Otto wollte die Thekenfachkraft nicht mit Informationen überfüttern, er wusste natürlich genau, welche Rückfragen nun fällig waren. 

Thekenfachkraft: Was für Sauce?

Karl-Otto: Curry

Thekenfachkraft: Für Pommes: Ketchup oder Majonäse?

Karl-Otto: Ketchup

Thekenfachkraft: Mitnehmen oder hier essen?

Karl-Otto. hier essen

 

Das Eintippen schien ohne Komplikationen abzulaufen, manchmal ein etwas heikler Punkt. Karl-Otto sah zu seiner Zufriedenheit, dass der angezeigte Rechnungsbetrag korrekt war: 5 Euro 29 Cent. Die Thekenfachkraft steuerte das Regal mit dem Küchen-Output an. Natürlich kein Chicken Achter vorrätig. Karl-Otto war alarmiert. Immerhin bestellte der Mitarbeiter deutlich den Achter. Aus der Küche erschallte ein: "MOMENT". Der Thekenmensch kehrte zurück. 

 

Thekenfachkraft: Achter dauert

Karl-Otto. Wie lange ungefähr?

Thekenfachkraft: Moment

Karl-Otto: Okay

 

Natürlich war gar nichts Okay. Aber Karl-Otto wusste, dass er nichts verschenkt, solange er nur ein "okay" einschiebt. Er durfte jetzt nur nicht den Fehler machen und die Rechnung begleichen. Wichtig war jetzt, dass der Mitarbeiter die Zwangspause gut nutzt und die anderen Sachen herbeischafft. Also vermied es Karl-Otto, dass sein Gegenüber des Geldes ansichtig wird, das er schon in der Hand bereithielt. Stattdessen ließ er ganz selbstverständlich und suggestiv den Blick in Richtung Pommes-Vorrat und Getränkezapfstelle schweifen. Der Mitarbeiter konnte sich dem nicht entziehen, machte sich nach einem Blick auf sein Display folgsam auf den Weg.

 

Karl-Otto beobachtete nun scharf. Bursche, ich schau dir auf die Finger , dachte er grimmig. Cola LIGHT habe ich bestellt. LIGHT wird immer ganz rechts, normale Cola irgendwo in der Mitte. Karl-Otto sah: richtige Zapfstelle. Immerhin.

 

Pommes Frites sind auch nicht ganz ohne Tücken. Karl-Otto konnte es nicht leiden, wenn die letzten Reste aus dem Blechbehältnis für ihn zusammengekehrt wurden. Er hatte es schon fertiggebracht, in der Warteschlange Jemanden vor zu lassen wenn ihm dies aus Gründen des Fritten-Timings angebracht erschien. Aber auch dies lief nun zu seiner Zufriedenheit ab, die Ware hatte die Friteuse noch nicht lange verlassen. Der Mitarbeiter kehrte zurück. Ohne Schwierigkeiten zu machen, legte er noch die Packungen mit Curry-Sauce und Ketchup auf das Tablett. Es fehlte nur noch der Chicken Achter, der sich hoffentlich in Arbeit befand.

 

Karl-Otto wollte es unbedingt vermeiden, vorzeitig zu bezahlen. Er hatte die Erfahrung gemacht, dass er dann sofort links liegen gelassen wird und der Willkür des Restaurant-Mitarbeiters ausgeliefert ist. Eine Sache konnte er noch ganz organisch einflechten: 

Karl-Otto: Kann ich bitte einen Deckel auf dem Cola-Becher haben?

 

Dies brachte aber nur etwa 15 Sekunden , dann war sein Wunsch erfüllt. Jetzt wurde es ernst. Karl-Otto schaute nervös auf die Uhr und war entschlossen, eine Lüge aufzutischen. 

 

Karl-Otto: Ich muss zum Zug. Wie lange dauert es denn noch mit dem Chicken Achter? 

Thekenfachkraft: Nur Moment. Wenn Sie wollen, bringe ich es Ihnen an den Platz

 

Karl-Otto war innerlich entrüstet. Er stellte sich vor, dass er in einem Restaurant dinieren will, und dann kommt der Oberkellner mit den Kartofffeln und mit der Aufforderung: "Jetzt iss erst mal das, Fleisch bringe ich Dir später. Und Abkassieren würde ich auch gern schon mal."

 

Karl-Otto: NEIN, ich will alles zusammen haben, nehme es selber mit zum Platz. 

Thekenfachkraft: Okay, das macht dann 5 Euro 29 Cent. 

Karl-Otto mit einem fahrigen Blick auf die Uhr: Ich kann gar nicht warten, mein Zug geht bald. Fragen Sie doch noch mal in der Küche nach, wie lange der Chicken Achter noch braucht, wenigstens in etwa.

 

Etwas widerwillig bewegte sich der Mitarbeiter in Richtung Küche, beharrte diesmal sogar auf eine Zeitangabe. Wendete sich dann wieder an seinen Kunden. 

 

Thekenfachkraft_ 1 bis 2 Minuten. 5 Euro und 29 Cent. 

 

Karl-Otto dachte sich, dass diese Zeitangaben oft Schall und Rauch sind. Solang ich nicht gezahlt habe, störe ich den Betrieb, solange kann ich Druck ausüben. 

 

Karl-Otto: Ich zahle gern, wenn ich meine Bestellung habe. Die Pommes werden ja auch kalt, das geht doch so nicht. Sie wollen das ganze Geld, liefern mir aber nur die Hälfte meiner Bestellung. So geht es nicht!

 

Thekenfachkraft: Ist fertig, wenn Sie bezahlt haben. Andere Leute hinter Ihnen wollen auch. 

Karl-Otto: Ach so, kein Problem, bedienen sie ruhig erst den Herrn hinter mir, selbstverständlich. 

 

Karl-Otto trat einen großen Schritt zur Seite und versuchte, den hinter ihm stehenden Mann mit einer großzügigen Geste an die Kasse heranzuwinken. Natürlich wusste er, dass es nicht weiter geht, so lange er nicht gezahlt hatte, aber jetzt kam es darauf an, sich dumm zu stellen und Zeit zu schinden. 

 

Thekenfachkraft: Ich habe hier eingetippt, kann erst weitermachen, wenn sie bezahlt haben

Karl-Otto: Aso, hm?, dann reden sie mit ihrem Koch, wenn ich die Ware habe, zahle ich sofort. Wenn ich nicht vorher weg muss, mein Zug geht bald.

 

In der Warteschlange hinter Karl-Otto war erstmals lautes Murren zu hören. Sichtlich genervt orientierte sich der Mitarbeiter wieder in Richtung Küche, betätigte sich jetzt als Sklaventreiber, rief lautstark nach dem Chicken Achter. Karl-Otto verspürte eine gewisse Genugtuung, legte jetzt noch eine Schippe nach. 

 

Karl-Otto: Sie haben mir gesagt, es dauert einen Moment. Das ist aber ein langer Moment, kann ich nur sagen. Ich kann nicht mehr warten, mein Zug. Und die Pommes werden doch auch kalt. Ist das hier nicht Fast Food? Scheint mir eher Slow Food zu sein,

Die Thekenfachkraft: Es kann sich nur noch um Sekunden handeln. 

 

Der Mitarbeiter hatte es jetzt aufgegeben, das Geld einzufordern. Stattdessen stand er an der Küchenausgabe, rief nochmals laut nach dem Achter. Der Schichtführer war aufmerksam geworden, peilte hinter den Kulissen in die Küche rein. 

 

Schwupp, da rauschte die heiß ersehnte Packung an. Sofort griff der genervte Thekenmensch danach und brachte sie mehr als zügig auf das Tablett seines schwierigen Kunden. In derselben Sekunde überreichte Karl-Otto seine abgezählten 5 Euro 30 Cent , verzichtete auf die Entgegennahme von Kassenbon und 1 Cent-Stück , entschwand mit dem Tablett in der Hand. 

 

Karl-Otto empfand es wie einen Sieg auf der ganzen Linie. Seine Stimmung verbesserte sich zusehends. Er war fest entschlossen, es sich nun in Ruhe schmecken zu lassen. 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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