Habe ich was von "Pilgerroutine" geschrieben? Wie sieht die aus? Ganz einfach! Ich stehe morgens auf, höre dem einen oder andern Geräusch zu, dem Rascheln der Schlafsäcke, dem Einpacken irgendwelcher Utensilien, lausche den leisen Gesprächen, sehe die kleinen Lichtstrahlen so mancher Kopflampen, eine wirklich schöne Athmosphäre, alles ist im Aufbruch! Aufbruch! Wie schön. Jeden Tag neu! Ich wünschte, ich könnte dieses Gefühl für den Alltag konservieren. Ich spüre meinen Körper, der irgendwo, irgendwie immer schmerzt. Ich beachte ihn, aber springe auf, um mich selber bereit zu machen. Duschen? Ne, das geht morgens gar nicht, zuviel Andrang. Zähneputzen, ein kleiner Plausch mit rechts und links, lachen, Wasser ins Gesicht, Sachen zusammengepackt und ab geht es!
Von Pamplona mache ich mich auf zur nächsten Zieletappe, die ich ins Visier genommen habe, Puenta la Reina!
Es geht erstmal weiter bergab, Puente befindet sich auf 356 m Höhe. Aber bevor es bergab geht, erstmal wieder bergauf, Pamplona lag bei 409 m und bis zur Passhöhe "Alto de Perdon" geht es hinauf auf 735 m. Das Wetter spielt mit. Unterwegs treffe ich auf den Australier und wir kommen schnell in persönliche Gespräche. Wir gehen eine Weile zusammen. Schnell kommt man auf dem Pilgerweg auf das wirklich Wichtige zu sprechen. Kein Smal Talk! "Warum gehst Du?" "Was treibt Dich an?"
Der Australier ist für mich ein kleines Wunder! Er hat in Sydney eine spirituelle Begleiterin, die ihm geraten hat, den Jakobsweg zu gehen. Er hatte vorher noch nie was davon gehört. Aber er vertraut ihr so, dass er nach Hause fährt, einen Flug nach Madrid bucht, von dort aus mit Bus und Bahn nach St. Jean fährt und sich auf den Weg macht. Er geht barfuß neben mir her, gestützt an seinen Stock und erzählt mir von seinem Leben.
Er wußte nicht, was ihn erwartet. Wann begehen wir Wege, einfach so, ohne zu wissen, wo es endet?
Übrigens, der Altersdurchschnitt des "Pilgers schlechthin", jedenfalls derer, denen ich begegnet bin, liegt zwischen 45 und 55 Jahre! Nachdem, was ich so erzählt bekommen habe, wollte jeder diesen Weg als "Auszeit" ansehen. Viele waren sich nicht mehr sicher, wie es weiter gehen sollte. Beziehungsprobleme, viele Frauen übrigens, die nach 20, 25 Jahren über eine Trennung nachdachten. Männer, die im Berufsleben nicht mehr weiterkamen, sich gescheitert sahen, Burn-out-Problematiken aufwiesen. Andere wiederum hatten Angehörige, Partner, Freunde etc. verloren, wollten den Verlust verarbeiten, wollten über den Tod nachdenken.
Wer nimmt sich heute noch Auszeiten, um zu überdenken, was ist und was sein könnte? Menschen sind gefangen in ihrem Räderwerk. Höre ich doch oft auf Fragen, wie es so geht:" Ach, ich rödele so vor mich hin, wie ein Hamster im Käfig!". Ich bin dann immer sehr erschrocken!
Nun denn, ich kann mich ebenfalls an Zeiten in meinem Leben erinnern, da hatte ich schon ein schlechtes Gewissen, wenn ich mal ne Kaffeepause machte. Aber das ist Gott sei Dank lange her! Ich schweife ab!
Der Weg auf die Passhöhe Perdon ist traumhaft, die Luft klar, die Sonne scheint, ich sehe die Windräder von weitem, über die viel Energie gewonnen wird, gehe durch schmale, mit gelben Heide- und Ginsterbüschen bewachsene Wege, so weit das Auge reicht, immer höher hinauf.
An diesem Tag passiert das, was Kerkeling, den ich im Nachhinein gelesen habe, beschrieb "Ich weinte ohne Grund!", einfach so, dachte ich jedenfalls in diesem Moment! Weil ich diese wunderschöne Natur sah, weil ich allein war, weil ich mich frei fühlte! Aber erst als mich Serano, der Australier in den Arm nahm, weil er sah, dass ich weinte, wußte ich, es war auch wegen meinem Leben, dass ich bisher geschafft hatte, all dem Schmerz, all der Anstrengung, der bewältigten Krankheit und der Angst, die mich manchmal im Alltag befallen hat!
Aber gerade deswegen war ich glücklich und dankbar, genau das sagten mir die Tränen!
Auf der Passhöhe angelangt, liege ich in seinen Armen, weine und lache gleichzeitig und bin seelig, genieße den Rundblick auf die Landschaft und die Dörfer und Städte, die sich von weitem meinem Auge darbieten, Wie schön, einfach auf das Leben zurückzuschauen, ohne weiter darüber nachzudenken!
Leider befinden sich an diesem Ort kleine touristische Ansammlungen, denn es ist ein beliebtes Ausflugsziel für Buspilger und Autofahrer, zum einen wegen der wunderschönen Aussicht, zum andern wegen der metallenen Kunstwerke, die Jakobsfreunde aus Navarra 1996 hier aufgestellt haben, eine lustige Pilgerkarawannenskulptur, bestehend aus Frauen und Männern, Pilger mit Eseln und Pferden. Es sieht gespenstisch aus, aber dennoch einladend.
Hier gibt es eine kleine Ruhepause, aber wirklich nur kurz, denn die Menschenansammlungen nerven mich. Ich hab mich sehr schnell an die Einsamkeit gewöhnt und sehne sie wieder herbei. Ein steiler Abstieg beginnt, erschwert durch dicke Felsbrocken und Geröll und das erste Mal denke ich, vielleicht wäre es doch gut gewesen, einen Pilgerstab zur Hand zu haben. Während der Australier den seinen umklammert, sich abstützt, mache ich immer noch die "coole", meine immer noch, dass es das Beste ist, die Hände frei zu haben. Aber es geht in die Waden und in die Schienenbeine, das merke ich. Man braucht Stützen im Alltag, das erkenne ich jetzt, aber gebe es nicht zu. Ich will immer alles alleine machen!
Kurz hinter der Passhöhe entspringt die kleine Quelle des "Fuente de la Tega". Einer Legende nach soll hier der Teufel Pilger versucht haben. Er bot ihnen Wasser an, aber nur, wenn sie ihrem Gott abschworen. Ja, ja, ich sag´s ja immer, die Versuchungen!
Aber mah ehrlich, was bedeutet das Wort "Versuchungen" heute wirklich? Ich meine, es kommt in unserem Wortschatz eigentlich nicht mehr vor. Jedenfalls, ich kenne viele solcher Versuchungen in meinem Alltag. Das fängt bei den sinnlichen Genüssen an, geht über die Eigenanklage, nicht gut genug zu sein, mich nicht annehmen zu wollen, wie ich bin oder meinen Nächsten nicht annehmen zu wollen, bis zu dem Moment, wo ich den Anderen am liebsten einen an die Ohren geben will. Dann wären da noch die Versuchungen des "urteilens und beurteilens" des Anderen. Na ja, jeder kennt seine eigenen Versuchungen sicher selber! Das Leben ist ein Kampf, gerade auch gegen die Versuchungen! Denn ich weiß es doch, wenn ich diesen Versuchungen nachgebe, lähme ich mich selber und in Konflikten mit anderen, erschwert es die Situation, ehe dass sie es verbessert. Also übe ich mich in Geduld und nehme meine Emotionen zwar wahr, suche sie aber zu beherrschen, damit sie kein Unheil anrichten. Genug filosofiert!
Ich gelange endlich mit dem Australier und Sandra, einer Deutschen, wir trafen uns unterwegs wieder, nachdem jeder eine lange Zeit allein gegangen ist in Puenta la Reina wieder. Die, die für eine Zeit zusammengehörten, trafen sich tatsächlich immer wieder.
Puenta la Reina, eine alte Handwerkerstadt. Hier ließen sich besonders die Franzosen nieder. Die "Calle Mayor" zieht gerade durch die Altstadt bis zur Brücke über den "Agra" Angeblich soll die Brücke auf Wunsch einer Königin errichtet worden sein, daher der Name:" Brücke der Königin"
Erst die vielen großen und kleinen Brücken in den Orten ermöglichten das wirtschaftliche Wachstum Spaniens in vielen Regionen, vor allen Dingen entlang des Jakobsweges.
Mir gefällt Puenta la Reina sehr gut, ich mag diese mittelalterliche Athmosphäre, die alten Steinhäuser, den Duft alter Traditionen.
Wir erreichen eine österreichische Herberge, die super gemütlich ist, mit Bett unterm Dach, Matratzen auf dem Boden. Ich suche mir eine Ecke aus, in der sogar ein kleines Tischchen steht und eine kleine Anrichte. Vor mir noch weitere 10 Matratzen, auf denen erschöpfte Pilger liegen, schlafen, lesen, erzählen. Ich bin glücklich, mache Purzelbaum auf meiner Matratze und rufe den anderen Pilger zu:" Hey schaut her, wie gut ich es getroffen habe, ein eigenes kleines Reich!" Was brauche ich mehr?
Mittlerweile regnet es draußen. Wir ruhen bis zum Abendessen, suchen ein Lokal und ich verabschiede mich vorzeitig, weil es mich drängt, noch ein bißchen auszukundschaften. Dort entdecke ich, dass dieser Tag der Vorabend zu einem Volksfest ist. Alle Bürger des Ortes befinden sich auf der Straße, kleine Karussels für die Kinder sind aufgebaut. In einer Ecke werden Bonbons für die Kinder in die Menge geschmissen, ich denke "Kamelle, Kamelle" auch in Spanien und muß lachen! Alles ist fröhlich und heiter. Am nächsten Tag sollen die jungen Stiere durch die Straßen gejagdt werden. Klar, was sonst in der Nähe Pamplonas?
Ich ziehe mich in eine Bar zurück, in der gerade eine Band ihr Equipment aufbaut, bestelle mir an der Bar eine Whisky-cola, sitze zwischen all den Spaniern, fühle mich gar nicht fremd, fange einfach an mit meinen Nachbarn ins Gespräch zu kommen und es gelingt tatsächlich. Ein junger Mann, der zwar sehr schlecht englisch spricht und ich sehr schlecht spanisch, erklärt mir, welche Band hier gleich ihr Debüt geben wird. Und da kommt er auch schon, der Leadsänger. Sieht aus wie "Alice Cooper" aus den Siebzigern! Ich muß lachen, gehe auf ihn zu und erzähle ihm natürlich von meinem Vergleich. Er fühlt sich geschmeichelt, gibt mir was zu trinken aus und wir haben ne Menge Spaß. Inzwischen kommen auch meine anderen Mitpilger und wir rocken ganz schön ab, als es losgeht, haben unseren Spaß, gelebte Pilgerfreude, bis die Uhr uns in die Herberge zurückruft. Es ist Sperrzeit! Nun denn! Schade, aber manchmal ist es besser so.
Gegen 22.30 Uhr liegen wir im Bett. Ich wache um 5.00 Uhr auf, denn mehr als 5 bis 6 Stunden Schlaf brauche ich nicht, noch nie und schaue aus meinem kleinen Dachfenster hinauf in den Himmel und sehe die Sterne, die ich sehr selten wirklich zu sehen bekomme, wegen der frühen Schlußzeit der Herbergen. Ich lausche auf die Geräusche im Raum, den leisen Atem der Anderen, das eine oder andere leise Schnarchen oder Schnörcheln und fühle mich absolut geborgen. Dieses kleine Stück Himmel genügt mir, ich bin glücklich, es weiter geschafft zu haben. Ich denke nur von Tag zu Tag! Genau das ist es. Ich hoffe, auch das, nicht zu verlieren. Denn was nützt es weiterzudenken, immer nur der nächste kleine Schritt. Offen bleiben! Was weiß ich, was übermorgen ist, ob ich jemals irgendwo ankommen werde und wie? Geht es nicht darum, einfach gehen, sich weiterbewegen, ohne ein bestimmtes Ziel zu haben, sondern sich überraschen lassen, wo und wie es enden wird.
Am Morgen gibt es ein fürstliches Frühstück, für das ich genau 2,00 gezahlt habe, dafür aber selbstgebackenes Brot und selbstgemachte Marmelade bekomme, was ein absoluter Genuß ist, nach den morgendlichen, frühstückslosen Zeiten!
Ich bin auf dem Weg!