Der Deutschlandfunk schrieb vor vielen Jahren wie man aus einem Roman von Ondaatje, in diesem Falle *Der englische Patient* einen so schnulzigen Film machen konnte. Ondaatje schreibt mit einer so gewaltigen Wucht, dass man die Bilder im Kopf des Lesenden eigentlich gar nicht übermitteln kann. Ich kann das aus einigen seiner Bücher, die ich bisher gelesen habe, nur bestätigen.
Michael Ondaatje, geboren 1943 in Colombo/Sri Lanka, ist kanadischer Schriftsteller mit niederländisch-tamilisch-singhalesischer Herkunft. Über Umwegen nach London und von dort siedelte er 1962 nach Kanada aus und nahm einige Zeit später die kanadische Staatsbürgerschaft an. Viele Preise hat er eingeheimst, u.a. natürlich den Golden Man Booker Prize für seinen englischen Patient.
Seinen Roman *Kriegs Licht* möchte ich heute allen Lesebegeisterten wärmstens empfehlen.
Nimmt man das Buch zur Hand stellt man sich vor, man sitzt gemütlich bei einem Tee mit einem Ende 20 Jahre alten Mann beisammen, der uns an seinen Erinnerungen seiner frühesten Jugend gegen Ende des 2.ten Weltkrieges erzählend teilnehmen lässt. Die Zeit wird einem auf keiner Seite und zu keiner Stunde langweilig, so packend kommen seine Erzählungen daher, spannend wie ein Thriller, nein, eigentlich, soviel verrate ich, ist es auch ein Agenten-Thriller, an dem an manchen Stellen so etwas wie eine Erkenntnis aufblitzt, wohin das alles führt und was bei seiner Suche, wer seine Mutter war, herauskommt. Denn seine Mutter ist die Person, der er versucht in seinen Erinnerungen auf die Spur zu kommen. Wer war sie und was war hinter all ihren Heimlichkeiten und Verheimlichungen verborgen.
Nathanel und seine Schwester Rachel werden von einem auf den anderen Tag im Jahre 1945 von ihren Eltern verlassen. Der Vater angeblich für eine große Firma arbeitend nach Asien versetzt. Nathanel wird ihn bei seinem Abflug begleiten und sieht ihm zu, wie er mit der neuen Avro Tudor, einem Nachfolger des Lancaster-Bombers, aus ihrem Leben davon fliegt.
Seine Mutter wird nach kurzer Zeit hinter fliegen, so erzählt sie es ihren beiden Kindern. Nathanel und Rachel sollen nach einem Jahr dann ebenfalls zu ihnen gelangen. Es kommt aber anders.
Es gibt noch eine kleine innige Zeit des Zusammenseins mit der Mutter, die ansonsten ihren Kinder eher distanziert und undurchschaubar erscheint. Dann packt sie einen großen Überseekoffer und eines Tages ist sie verschwunden. Nicht aber, um Vorsorge zu treffen.
Sie übergibt ihre beiden Kinder der Obhut eines Mannes, den sie Walter nennt, der von den Kindern jedoch immer *der Falter* genannt wird, weil er ein wenig flatterhaft durch die Welt zu streifen scheint. Auch ein anderer wichtiger Mann wird sich um sie kümmern, wenn auch zu anfangs widerwillig, den sie ganz einfach *den Boxer* nennen. Und schnell wird deutlich, dass es sich bei diesen Männern um zwei zwielichtige Kleinkriminelle handelt.
Es ist sicher mit das Schlimmste für Kinder, wenn ihnen die Eltern genommen werden, vor allen Dingen, wenn nicht ersichtlich ist, warum sie eigentlich so verschwunden sind aus ihrem Leben. Vertrauen in die Welt der Erwachsenen und des eigenen Erwachsenwerdens bricht ein und sie müssen kämpfen, damit umzugehen. Ganz so jung waren die beiden nicht mehr. Sie befinden sich im Alter der beginnenden Pubertät.
Für die beiden Geschwister beginnt dennoch eine Welt voller Abenteuer nach dem Verlassen der Eltern. Im Elternhaus wird es plötzlich lebendig. Ständig gibt es interessante wechselnde Besuche, Bekannte, Freunde und Liebschaften (insbesondere des Boxers) der beiden Männer, die das Leben der beiden nachhaltig bereichern und inspirieren. Vor allen Dingen ist es eine junge Geographin und Ethnographin, Olivia, die den Kindern eine Welt voller Geheimnisse erklärt. Man erfährt z.B. wie Wissenschaftler damals bei der Planung des D-Day die Windgeschwindigkeiten gemessen haben und wie sie und andere Experten in den dunklen Himmel aufgestiegen sind, um zu horchen, wie durchlässig der Wind war und nach Licht ohne Regen zu suchen, um je nachdem das Datum für die Invasion zu verschieben oder zu bestätigen.
Beide Geschwister verlieren in diesem Durcheinander und Trubel ihrer neuen Welt die Nähe zueinander. Beide gehen ihre eigenen Wege. Nathanel wird sich mehr und mehr *dem Boxer* zuwenden, mit dem er in geheimen Missionen nachts über die Wasserkanäle den Schmuggel von Wildhunden für illegale Hunderennen, aber auch von Sprengstoffen betreibt. Er wird für ihn zu einer Vaterfigur. Wunderschön erzählt Ondaatje über diese nächtlichen Fahrten.
Was Rachel so treibt, wird nicht richtig durchsichtig, sie ist umtriebig, aber niemand weiß, was sie in ihrem Herumstromern treibt. Sie geht fleißig zur Schule und ist froh, dass *der Falter* da ist, bei dem sie einen Ersatz von elterlichem Schutz sucht. Vor allen Dingen weil sie immer wieder an Anfällen von Epilepsie leidet.
Es wird *schwer* sagt *der Falter* eines Tages zu beiden Kindern, die noch nicht ahnen, was er mit *dem Schweren* meint. Als wenn es für sie nicht schon schwer genug ist, ihre Eltern verloren zu haben. Und sie müssten sich auf solche Momente der Schwere vorbereiten, sie müssten gewappnet sein, damit sie mit dem Geschehen umgehen könnten.
Er erzählt den Kindern, dass Gustav Mahler des öfteren das Wort *schwer* an manchen Stellen in seine Partituren schrieb, als sei es eine Warnung vor dem Kommenden. Bei dem, was an Schwerem auf den Menschen zukommt, braucht es einen guten Verstand. Manchmal muss man einfach nur still werden, wie bei einer Partitur, die sich niemals nur auf eine Tonhöhe oder das Können des Orchesters verlässt.
Mir kam auch der Gedanke, dass der Mensch, wenn das Schwere kommt, es einfach nur *leicht* nehmen muss, was wiederum schwer ist, eine Übung, die einen das ganze Leben beschäftigt. Wie auch Milan Kundera in seinem Roman * Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins* einmal hervorhob.
10 Jahre braucht Nathanel, um einigermaßen das Leben seiner Mutter aus den vagen Erzählungen der beiden Männer *Falter* und *Boxer* und aus seinen eigenen späteren Archivarbeiten zu rekonstruieren und zu entschlüsseln.
Anders wie seine Schwester Rachel, die es ihrer Mutter nicht verzeiht, dass sie sie verlassen hat und ihren Hass beständig in sich trägt, wird Nathanel seine Mutter wiedersehen und eine Weile mit ihr zusammen leben.
Es gibt eine wunderschöne Stelle in dem Buch, die mich als Schachbegeisterte natürlich besonders gefreut hat. Nathanel wird von seiner Mutter in das Schachspiel eingewiesen. Und bei einem gemeinsamen Spiel erzählt sie ihm einmal von einer der berühmtestens Schachpartien, die Paul Morphy gegen den Herzog von Braunschweig und den Grafen Isoard während der laufenden Premiere der Oper *Norma* von Bellini gespielt haben soll. Daher ist der Schachwelt diese Partie als *Opernpartie* bekannt. Damals war Morphy gerade mal 21 Jahre alt als er die beiden in der Partie schlug. Und obwohl Morphy ein großer Musikfan war und diese Oper unbedingt sehen wollte, saß er mit dem Rücken zur Bühne, setzte seine Züge in einer Geschwindigkeit, um sich dann schnell wieder dem Geschehen auf der Bühne zuzuwenden.
Es war eine wahre Meisterleistung, weil seine Züge in einer solch überraschenden Schnelligkeit getätigt wurden und die beiden anderen Herren Zeit verwenden mussten, ja in hitzige Diskussionen gerieten, um den jeweiligen Zug zu finden, mit dem sie etwas entgegensetzen konnten. Das Spiel begann damals im übrigen mit der Philidor-Verteidigung. Wunderbar beschreibt Ondaatje den Vorgang des Spiels Morphy gegen die Beiden. Ich war begeistert. Aber lest selber.
Also großartige Schreibkunst, wunderbares Erzählen über das Ende des zweiten Weltkrieges in England, aber auch von den Wirren des Danachs, denn so ganz hörte der Krieg nach Ende ja nicht auf. Im Untergrund fanden immer noch Kämpfe gegen die im Untergrund agierenden Faschisten statt überall auf der Welt. Und damit hatte eben auch die Mutter der beiden Kinder zu tun. So viel verrate ich Euch.
Aber auch ein Buch über das Erwachsenwerden, dem Kampf gegen das Schwere im Leben und von den Erinnerungen an das Gestern, das uns Menschen ja immer begleitet. Denn die Vergangenheit bleibt nie in der Vergangenheit. Im Jetzt und im Heute werden wir immer wieder mit Dingen, Menschen und Handlungen konfrontiert, die uns an frühere Dinge erinnern. So dass eben auch niemals gesagt werden kann, Wunden verheilen. Sie können immer wieder aufbrechen.
Am Ende des Buches habe ich gedacht, ich würde auch so gerne das Leben meiner Eltern und Großeltern im Nachhinein entschlüsseln können. Sie selber haben so gut wie nie etwas erzählt. Sie waren auch keine Berühmtheiten, so dass ich in Archiven stöbern könnte. Bleibt mir nur übrig wie Nathanel es phasenweise auch tut, Bruchstücke zusammenklauben, sich die Welt zusammenträumen derer, in die man hineingeboren wurde und somit mehr und mehr Erklärung und Erkenntnis zu gewinnen, warum wir selber so geworden sind, wie wir jetzt in dieser Welt stehen.
Einem Kind kann man verzeihen, wenn es glaubt, dass da oben irgendwo im Himmel, wie es ihm gesagt wird, einen Gott gibt, der ihm helfen kann, ihn von seinem täglichen Unglück, dass es erleidet, zu befreien, er ihm zur Hilfe zu kommt. Einem Kind kann man das verzeihen. Es weiß noch nichts.
Einem Erwachsenen kann man das nicht verzeihen. Eine solch törichte Dummheit. Dass der Mensch von einem Gott, einem höheren Wesen, oder wie auch immer man das nennen möchte, vom Elend, dass er erleidet, sei es einem Elend das ihn durch eine Krankheit oder eine psychische Störung befallen hat, oder durch äußere Einwirkungen, wie Kriege, Epedemien, Hungersnöte etc. befreit wird. Nein, einem erwachsenen Menschen kann man eine solche Torheit eines unsinnigen Hoffnungsglaubens nicht verzeihen. Man kann nur Mitgefühl mit ihm haben, ob dem, in dem er sich zu flüchten versucht. Allenfalls kann ein Glaube an einen solchen Gott Ruhe und Gelassenheit schenken, auszuhalten. Manchmal gibt es Rettung, das kann man dann einfach nur Glück nennen.
Diese Gedanken gingen mir immer wieder beim Lesen des Buches, das ich heute vorstellen möchte durch den Kopf. Meine Gedanken waren verbunden mit immer wieder regelrechtem Wütendwerden über den Protagonisten, obwohl der doch auch ein wenig ein guter Mensch war. Jedenfalls hatte er gute Absichten und musste dennoch auch an sich erfahren, dass selbst die guten Absichten oft das böse tun mit einschließt.
Dennoch hab ich dieses Büchlein von Stewart O`Nan, einem US-amerikanischen Schriftsteller, von dem ich zuvor schon einige andere Bücher gelesen hatte, verschlungen. Er ist einfach ein großartiger Erzähler und es ist merkwürdig, dass er es, soviel ich jedenfalls weiß, noch zu keinem Preis eines seiner Werke gebracht hat.
Das Glück der Anderen ist der Titel seines Buches und erzählt die Geschichte über eine kleine amerikanische Stadt, die von einer doppelten Katastrophe heimgesucht wird. Zum einen einer Krankheit, die sich in eine Epedemie ausweitet, zum anderen durch ein Großfeuer, dass sich rasend schnell auf diese kleine Stadt zubewegt.
O´Nan beschreibt dieses Szenario ohne großes Melodrama. Für den Hauptprotagonisten, Jacob Hansen, der in der kleinen Stadt Friendship gleichzeitig Sheriff, Prediger und Leichenbestatter zugleich ist, bedient er sich der zweiten Person Singular, was bedeutet, dass man beim Lesen den Gesprächen mit sich selbst Hansens lauscht.
Jacob Hansen ist von großer Gottesfurcht und einem starken Glauben an einen seinen Gott verfallen, auf den er trotz fortschreitender Katastrophe nicht wagt, seine Hoffnung auf ihn fallen zu lassen. Auch nicht, als er sein eigenes Kind und seine Frau verliert.
Hansen ist ein rechtschaffener Mensch, so beschreibt er sich selber, der vor allem die Sicherheit und das Überleben der wenig verbliebenen Menschen in der kleinen Stadt gewährleisten will. Die goldenen Zeiten der Stadt liegen lange hinter ihr. Diese Rechtschaffenheit, sein Pflichtbewusstsein seinem Dienst als Sheriff gegenüber, seine Stadt zu beschützen, bringt ihn am Ende sogar dazu, seine eigene kleine Familie, um die er sich sonst liebevoll gekümmert hat, im Stich zu lassen und sich der großen Aufgabe zur Rettung der Gemeinschaft ganz hinzugeben.
Immer wieder sagt er sich vor, dass es seine Pflicht ist, dass er in Kauf nehmen muss dabei Opfer bringen zu müssen und immer wieder gerät er in seinem Zwiegespräch über all das in einen inneren Streitdialog mit seinem Gott, vor dem er sich rechtfertigen will, wo ist das, was er tut, noch Liebe und wo fängt das Böse an.
Er legt ein so überaus großes ich-bin- und will-gut-sein-und bleiben an den Tag, dass es mir stellenweise so erging, es nicht mehr ertragen zu können, davon zu lesen. Natürlich wollen wir das doch alle. Dennoch stoßen wir immer wieder an unsere Grenzen und müssen uns selber eingestehen, dass es das nicht gibt, das absolute Gutsein, das immer Rechtschaffende. Dass wir auch böse sein können. Das einzige was zählt bzw. wenn es uns möglich ist und in unserer Verantwortung liegt, dass das Böse in uns keinen all zu großen Schaden anrichtet. Sollte das passieren, wir nur auf eines hoffen können, nämlich um die Vergebung derer, denen wir etwas angetan haben, so wie wir auch denen vergeben möchten, die uns Schaden angerichtet haben. Und diese Vergebung bezieht sich nicht auf einen Gott, dem wir etwas beweisen wollen, sondern allein auf unsere Menschlichkeit.
Wenn Hansen an einer Stelle sagt, er will keine vorgefertigte Meinung zu anderen Menschen haben, will alle Seiten hören, versuchen sie zu verstehen, kann ich das nachvollziehen, das kann man versuchen. Aber wenn er weiter ausführt, er will *alle* mögen, dann muss ich passen. Da habe ich meine Grenzen. Ich will den hinter ihrer biederen Bürgerlichkeit versteckten rechten Gesinnungsgenossen, Ausbeutern, Kinderschändern, Gierhälsen und sonstigen Dummköpfen weder zuhören noch möchte ich sie mögen.
Hansen wird dem sich selber Vorgesagten, ewig gut zu sein untreu zu werden. Die Idylle des alltäglichen Lebens in der kleinen Stadt Friendship wird mehr und mehr auseinander brechen, je größer die Anzahl der Toten wird und das Feuer sich rasend schnell auf die Stadt zubewegt. Panik bricht aus. Jeder will sich selbst der Nächste sein. Das Glück der Anderen zählt nicht. Und wenn es gar nicht anders geht, wird das Eigene mit einem Gewehr verteidigt. Die Quarantänebestimmungen durchbrochen und versucht, nachts aus der Stadt zu fliehen, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, dass man möglicherweise die Seuche mitnimmt und sie weitere Kreise zieht in der nächsten und übernächsten Stadt.
Und so versucht Hansen das alles in den Griff zu bekommen, wird angefeindet, muss selber seine Waffe benutzen, um das Unmögliche vielleicht noch möglich zu machen, viele Menschen zu retten.
Am Ende steht er vor den Trümmern seiner Rechtschaffenheit aber auch vor einer unerwarteten plötzlich sich vor seinen Augen auftuenden Erkenntnis. Die will ich Euch aber nicht verraten.
O´Nan hat sein Buch im übrigen durch Anregung eines anderen Buches, nämlich das von von Michael Lesy über einen Tatsachenbericht einer Epidemie in Wisconsin mit dem Titel: Death in Wisconsin* geschrieben.
Wo wir gerade alle selber in einer Situation einer über uns hereingebrochenen Seuche, ausgelöst durch einen Virus, steckten oder immer noch stecken, denn so recht wissen wir noch nicht, ob wir es hier in unseren Gefilden in den Griff bekommen haben und wie es insgesamt auf der Welt damit weitergeht und den Folgen, die damit verbunden sind, zwischenmenschlich, gesellschaftlich und wirtschaftlich, ist das Buch O`Nans hoch aktuell und beim Lesen entdecken wir Mechanismen, die dort in der kleinen Stadt Friendship zwischen den Menschen entstanden sind, die wir nun selber all zu gut kennengelernt haben.
Und jeder darf sich glücklich schätzen, wenn er selber und so viel Menschen wie möglich,
nicht nur die, die einem selber nahe stehen, davon verschont geblieben sind.
Es zählt nicht nur das eigene Glück sondern auch das der Anderen.
Und wenn es, egal wie und was uns heimsucht, hilft auch kein Glaube an eine Rettung von irgendwo da oben im Universum, sondern einzig und allein zählt unsere eigene Verantwortlichkeit und Vernunft im Umgang mit dem, was ist. Wie mit allem im Leben, was einen Glauben jedoch an einen Gott nicht ausschließen muss.
*In Zeiten der Pest gibt es kein Entrinnen. Uns bleibt nur die Wahl, Gott zu hassen oder zu lieben*
Und da hat sie wieder eins geschrieben meine Patti. Im Jahr des Affen der Buchtitel. Sie schreibt über ihr erlebtes Jahr 2016, dass im chinesischen Horoskop als das Jahr des Affen bezeichnet ist.
Und sie schreibt genauso, wie sie es immer getan hat. Sie lässt sie fließen, ihre Gedanken, Eindrücke von Orten, durch die sie ziellos streift, immer einem kurzen Impuls folgend, Träume und Visionen der Zukunft und von ihrer Traurigkeit, die ständig in ihr webt über den Verlust der Menschen, die ihr etwas bedeuteten und ihrer Angst vor Krankenhäusern aber auch über das Älterwerden, ohne Angst und in Sentimentalität zu verfallen. Sie steht vor ihrem 70.ten Geburtstag.
Der Spiegel bezeichnet sie in einer Rezension ihres neues Buch als eine *Heilige* des Internationalen Kulturbetriebes, die überall wo sie erscheint die Aura einer mit Zorn und Weisheit gesegneten verströmt. Mit dem Wort *heilig* kann ich mich nicht so recht anfreunden, dennoch stimme ich dem zu, was ihre Aura betrifft, die auch mich, seitdem ich ihr musikalisch, lyrisch und sonst schreibend folge, nur zustimmen kann. Meine Verbundenheit ihr gegenüber hat sich gehalten über die Jahre. Wenn man sie nicht persönlich kennt, kennt man sie dennoch, weil sie unendlich viel durch ihre Musik und das Schreiben über sich erzählt und man darf sich sicher sein, dass alles, was sie hervorgebracht hat und noch bringen wird, authentisch ist.
Das Jahr 2016 war für sie ein sich Treiben lassen zu Reisen an die Westküste der USA, nach Portugal und nach Belgien. Sie erzählt von dem, was sie unterwegs erlebt, ihren Begegnungen mit Menschen, Dingen, die sie merkwürdig berühren und sie nachhaltig verfolgen, wie etwa der Strand in Santa Cruz, der am Neujahrsmorgen über und über mit kleinen leeren Bonbonhüllen überfüllt war. Immer wieder kehren ihre Gedanken dahin, welche Bewandtnis das wohl hatte. Oder einfach das Schild des Hotels, in dem sie sich dort aufgehalten hat mit dem Namen *Dream in* , mit dem sie sich imaginär unterhält. Vielleicht denkt der ein oder andere, befremdlich mit Dingen zu kommunizieren.
Ist es aber nicht so, dass es so unendlich viele Dinge im Leben eines Menschen gibt, die sogar etwas wie ein Trost erscheinen können und mit denen dann gesprochen wird. Die Dinge erzählen oder erinnern einen an etwas und plötzlich hat man einen Dialog, der Vergangenheit oder auch auf etwas Hinweisendes für die Zukunft. Mir ergeht es manchmal ähnlich.
Zwei für sie wichtige Menschen in ihrem Leben liegen im Sterben. Sandy Pearlman, dem US-amerikanischen Musikproduzenten und Songschreiber , der nach einem gemeinsamen Auftritt plötzlich einen Schlaganfall erlitt und danach im Koma lag. Er starb am 26. Juli 2016 an einer Lungenentzündung.
Sam Shepard, dem US_amerikanischen Dramatiker und Schauspieler, der einer ihrer engsten Vertrauten aus den wilden 70er Jahren war. Er starb einen Tag später, am 27. Juli 2017 an den Komplikationen und Folgen seiner ALS-Erkrankung. Sie stand ihm noch zur Seite in seinen Letzten Tagen, an dem er sein letztes Buch vollendete.
Der Verlust lebensbegleitender alter Freunde, den kann man nie verwinden, so habe ich es selber im letzten Jahr erfahren. Und wer mir etwas anderes sagt oder gar ist vorbei, Leben geht weiter (was natürlich stimmt, aber anders) an dem zweifele ich an der Gefühlswelt. Mir ist es schleierhaft wie man Gefühle der Freude ausdrückt, aber Gefühle der Traurigkeit über den Verlust von liebgewordenen Menschen negiert. Ich bin jedoch kein Psychologe, der das deuten kann und will.
Ihre Reisen in diesem Jahr waren eher spontane Ausflüge, Sie hat sich treiben lassen. Ist es nicht etwas Wunderbares, wenn man, weil man die finanziellen Mittel dazu hat, sich einfach so seinen spontanen Ideen und Einfällen überlassen kann und durch die Welt herumstreunen kann?
Ich muss gestehen, wenn es so etwas wie *Neid* in meinem Leben geben könnte, dann würde er sich darauf abzielen. Es ist einfach wunderbar, ohne einen Druck der Aufgabenpflicht einmal eine Zeit haben zu können, in dem einem das möglich ist. Manchmal genügen ja schon 1, 2 Tage um aus dem alltäglichen Pflichtprogramm sich herauszuwinden. Habe das früher immer mal gemacht und es war eine Erfahrung des Loslassens und manchmal auch das Gefühl wie das eines kleinen Urlaubes. Jetzt hab ich selber ja auch die Zeit und kann mich oft so durch den Alltag treiben lassen und einfach spontan das tun, was ich gerade möchte.
In diesem Jahr exerzierte sie das regelrecht, das sich dem Überlassen des Impulsiven, welches sie dann auch an die Ziele der Reisen brachte, die sie in diesem Jahr machte. Und auch die Zeiten, die sie an den Orten verbrachte waren oft ein zielloses Herumstreifen durch die Strassen, das Sitzen in Cafes, langen Spaziergängen an Stränden, auch in der Nacht und unverhofften Gesprächen mit Fremden, die ihr manchmal vertrauter vorkamen als jene, die sie länger kannte.
Sie hat ihr kleines Notizbuch immer dabei, ansonsten reist sie mit wenig und trotz ihrer finanziellen Unabhängigkeit wählt sie oft einfache Möglichkeiten des Weiterkommens, wie etwa Mitfahrgelegenheiten, bei denen sie sich einfach am Benzingeld beteiligt. Gepäck hat sie so gut wie keines. Sie braucht nicht viel. Das Geld hat keinen anderen Menschen aus ihr gemacht, wie man es oft bei Anderen erleben kann. Sie kennt auch Armut in der Vergangenheit, das von der Hand in den Mund leben.
Das kleine Notizbuch beinhaltet all das, was ihr wichtig erscheint, festzuhalten, um es später zu reflektieren oder einfach für das Schreiben ihrer Gedichte und biografischen Erzählungen, auch ihre Träume, die sie nicht nur nachts erlebt, sondern auch ihre Tagträume, die sie manchmal einfach so von jetzt auf gleich hinwegziehen aus der Realität. *Unsere Träume sind ein zweites Leben, der erste Satz in Gerard de Nervals Buch *Aurelia*, dass sie spontan in einem kleinen Secondhandladen ersteht.
Das Lesen ist auch im Unterwegssein für sie unerlässlich. Im Hotel, auf einer Bank oder einem Cafe, in dem sie zum Frühstück Spiegeleier mit Bohnen speist, ihre kulinarischen Genüsse beschreibt sie immer ausführlich und sie erscheinen mir genauso eigenbröderlisch wie sie eben auch selbst ist, sitzt sie lesend bei Martin Becks Krimi *Und die Großen lässt man laufen* Ihre Leidenschaft für Kaffee und Krimis, seien es Bücher oder Filme, ist bekannt.
Ihre Zukunftsvisionen beziehen sich nicht nur auf ihr eigenes Leben im Älterwerden, sondern auch auf die Gesellschaft. 2016 befinden wir uns im Wahljahr Trumps. Und mit Zorn schreibt sie über die vielen Gelder, die während dieses Walhkampfes verschleudert werden, mit dem man so viel Vernünftiges tun könnte, wie die Krankenhäuser besser auszustatten, die medizinische Versorgung für alle gewährleisten könnte oder einfach für das Überleben der Obdachlosen sorgen können. Und dann diese Tatsachen. Sie schreibt:
*Es war der letzte Tag im Jahr des Affen, und der goldene Hahn krähte, denn der unerträgliche gelbhaarige Hochstapler war vereidigt worden, und das auch noch auf eine Bibel - Moses, Jesus, Buddha, Mohammed waren offenbar woanders*
Man könnte das kleine Zitat am Anfang ihres Buches darauf beziehen: Eine tödliche Torheit kommt über die Welt -. Antonin Artaud -
Ihre eigene Niedergeschlagenheit über die Wahl Trumps beschreibt sie folgend:
*Am Wahlabend schloss ich mich einem Treffen mit guten Freunden an, und wir sahen uns die schreckliche Seifenoper namens amerikanische Wahl auf einem Großbildfernseher an. Im Morgengrauen stolperten wir einer nach dem anderen von dannen. Der Grobian pöbelte. Schweigen regierte. Ich konnte nicht schlafen und machte einen Spaziergang nach Hells Kitchen*
Wie wahr und wohl die einzige Möglichkeit nach Ereignissen des Unfassbaren, Unerklärlichem und Furchtbaren in Schweigen zu verfallen. Was anderes bleibt einem auch nicht übrig. Alles Lamentieren und Zerreden bringt nichts. Sie ist wohl auch eine große Stoikerin. *Wir sprachen nicht über die Amtseinführung, aber wir hatten die gleichen Ängste, sie hingen schwer in der Luft.*
Es ist doch nie anders gewesen, dass während sich unsere Welt in ihrer verlässlichen Dummheit weiterdreht.
Die Bilanz des Jahres 2016 war für sie: Es passierte viel Schlimmes, aus dem noch Schrecklicheres entstand!
Und wenn wir die Welt um uns herum mit all den aktuellen Ereignissen betrachten, kann dem nur zugestimmt werden. Und wir sitzen da und betrachten die Katastrophen, Kriege,Unmenschlichkeiten im Fernseher oder auf unseren Smarthphones, ohne scheinbar etwas zu lernen, als wenn das, was passiert, nichts mit uns zu tun hat.
Es gibt viel zu entdecken in ihrem kleinen Büchlein, von dem ich hier nicht erzählt habe. Es würde den Rahmen sprengen.
Für Patti Smith Liebhaber ein Muss, für die anderen ein Kennenlernen und sich Beschäftigten mit ihr.
Drei. Merkwürdiger Buchtitel dachte ich, als ich das Buch aus meinem Geburtstagspäckchen auspackte. Dror Mishani heißt der Autor. Kannte ich nicht. Wieder mal ein Autor, ein Buch, dass ich unter den vielen Neuerscheinungen des Jahres nicht bemerkt hatte. Es sind einfach zu viele.
Mishani, 1975 geboren ist israelischer Schriftsteller. Bekannt durch eine Reihe Kriminalromane um den Ermittler Avi Avraham. Mishani beschreibt seine Krimiwerke eher als literarische Krimiserie. Er lebt in Tel Aviv, arbeitet als Übersetzer und Literaturdozent. Sein Spezialgebiet ist die Geschichte der Kriminalliteratur. Sein Anliegen war und ist es, über das Verbrechen an sich hinauszugehen. Aber das kann ja alles bei wiki: https://de.wikipedia.org/wiki/Dror_Mishaninachgelesen werden. Will mich damit nicht aufhalten.
Drei. Da lag es also vor mir. Auf meine Anfrage an den Schenkenden, warum dieses Buch, bekam ich die Antwort, sorry, ich hab es selber nicht gelesen, aber mich informiert im Netz. Soll sehr gut sein. Und der Buchhändler bei dem er es besorgt hatte meinte, gute Wahl.
Auf dem Klappentext stand: Eine Frau sucht ein wenig Trost, nachdem ihr Mann sie und ihren Sohn verlassen hatte.
Eine zweite Frau sucht nach einem Zuhause und nach einem Zeichen von Gott, dass sie auf dem richtigen Weg ist.
Eine dritte Frau sucht etwas ganz anderes.
Sie alle finden denselben Mann. Es gibt vieles, was sie nicht über ihn wissen, denn er sagt ihnen nicht die Wahrheit. Aber auch er weiß nicht alles über sie.
So begann ich an einem gemütlichen Nachmittag nach einer schönen Radtour zur Entspannung auf meinem Balkon mit der Lektüre und wurde sogleich hineingesogen in die erste Geschichte einer Frau namens Orna. Orna, die von ihrem Mann zurückgelassenen wurde. Ein neues Leben wollte er. Weit weg, in Nepal mit einer anderen Frau, einer Deutschen, die schon vier Kinder hatte und deren Vater er jetzt wurde und das Vatersein des eigenen Sohnes vergaß. Erstmal.
Mir gefiel wie Mishani das Gefühlsleben von Orna einfühlsam beschrieb, ihre Lage, wie sie damit umging, dass sie nicht akzeptieren konnte, dass sie mit ihrer Wut kämpfte, allein gelassen worden zu sein und wie sie darum kämpfte, dass auch ihr Sohn mit dem Zurückgelassen worden sein vom Vater mit Hilfe eines Psychologen zurecht kam, sie ihren Alltag versuchte zu bewältigen, ihrer Arbeit als Lehrerin an einem Gymnasium.
Wie so oft wird den verlassenen Partnern, egal ob weiblich oder männlich nach einer gewissen Zeit angeraten wieder ins Leben zurückzukehren, nicht allein zu bleiben, sich wieder einem anderen Menschen/Partner zuzuwenden. Kenne das selber auch. Nach drei Jahren sagten meine Kinder mal, meld dich doch mal in einem Singleportal an. Sie würden einige ihrer eigenen Altersklasse kennen, die das täten und das ein oder andere Mal das große Los gezogen hätten. Jösses antwortete ich ihnen, zum einen bin ich ganz zufrieden mit meinem Leben, zum anderen, selbst wenn ich das nicht und auf der Suche wäre, niemals nie würde ich eine solche Fleischbeschauung praktizieren. Und überhaupt, hallo, wer weiß an wen man da geraten würde. Das Lesen von Thrillern über Serienmördern schafft einem da doch wohl auch ein gewisses Unbehagen,-)
Nein Scherz beiseite, so was mag für Einige ein guter Weg sein, für mich nicht. Da fröne ich lieber meinem Alleinsein, bewusst schreibe ich Alleinsein, denn *einsam* fühle ich mich seltenst .
Orna jedoch wählt am Ende dann doch diesen Weg. Sie ist trotz ihrer Traurigkeit über das Scheitern ihrer Ehe lebenshungrig. Sie meldet sich auf einem Portal für Geschiedene an und studiert die Avatare der in Frage kommenden Möglichkeiten. Sucht, schaut und findet Gil, der Anwalt ist und sich im mittleren Lebensalterstadium befindet.
Nähe aufbauen fällt ihr dennoch schwer. Es bleibt eine lange Zeit bei einem Chatkontakt. Gil erweist sich als fürsorglicher Zuhörer, er wirkt nicht aufdringlich und überlässt es ihr, wann es zum ersten realen Treffen kommt. All zu viel wird er nicht von sich preisgeben, und dass was er ihr erzählt ist auf einem Lügenkonzept aufgebaut. Sie wagt jedoch den Schritt und sie treffen sich.
Während des Lesens der ersten Begegnung mit Gil gehen meine Gedanken in die Richtung, wie schwer so etwas sein muss. Sich bewusst mit einem Fremden an einen Tisch zu setzen und mit ihm ein Gespräch zu beginnen. Nicht, dass ich nicht kommunizierfähig wäre. Viele spontane Begegnungen mit Menschen erinnern mich daran. Aber mich gewollt mit einem Unbekannten zu treffen würde mir Scheu und Unbehagen bereiten, weil es doch auf ein Ziel hinausgeht. Spontane Begegnungen sind damit nicht verknüpft, da fühle ich mich freier.
Mishani beschreibt treffend die Unsicherheiten und Ängste die Menschen in ihrem Lebensalltag beschleichen in schwierigen Situationen oder des Scheiterns, wenn danach ein neuer Lebensweg gefunden werden will. Das hat mich für ihn eingenommen.
Und ohne nun weiter darauf einzugehen, was sich bei Orna und Gil entwickelt, da ich nichts vorwegnehmen möchte, kann ich aber schon anmerken, dass ich nach fast dem Ende des ersten Teils der Geschichte zwischen den Beiden so etwas wie einen kleinen Schock beim Lesen habe. Doch ein Krimi, denke ich. Oha. Hätte ich nicht gedacht. Weil das Buch im Klappentext auch nicht als *Krimi* oder Thriller* ausgewiesen ist. Auch habe ich zuvor nicht recherchiert. Die Spannung stieg also.
Der zweite Teil beschreibt die Begegnung Emilias mit Gil. Emilia stammt aus Lettland und ist über eine Personalvermittlungsagentur als Pflegerin für den kranken Vater Gils, was sie jedoch lange nicht wusste, da er ihr so gut wie nie im Hause begegnet ist. Als der Vater starb musste sie aus dem Zimmer im Hause des Verstorbenen ausziehen und wurde von ihrer Agentur an eine andere alte Dame in einem Seniorenheim vermittelt. Drei Tage die Woche. Was jetzt aber leider nicht zum Unterhalt ihres Lebens ausreichte. Sie war gezwungen sich einen Zusatzjob zu sichern, der sie einigermaßen über die Runden brachte. Und da kam Gil ins Spiel. Emilia ist eine Frau Mitte 40, allein in einem fremden Land, scheu und zurückgezogen von allem. Sie ist einsam. Auch hier sehr einfühlsam der Lebensalltag von Mishani beschrieben und nachvollziehbar. Zumal, wenn man selber mal in einer solchen Situation gelebt hat. Weg von Zuhause, in einer fremden Stadt, einem fremden Land. Drei lange Jahre hatte auch ich das schon erlebt. Und es hat mich so manches mal in einige verzweifelte Stimmungen gebracht, die überwunden werden mussten. Am Ende hat das Starke gesiegt und ein Weg zurück wurde gefunden. Das wird bei Emilia nicht geschehen. Sie ist zwar auf der Suche nach sich selber und dem richtigen Weg, aber Gil wird sich nicht als diese Zuflucht, neue Heimat oder wie immer man das nennen möchte, erweisen.
Dann kommt Ella. Sie trifft Gil in einem Cafe, in dem sie jeden Morgen für einige Stunden an ihrem Laptop arbeitet. Sie kommt mit ihm ins Gespräch während ihrer kleinen Rauchpausen vor der Tür, bei der er sie ebenfalls um eine Zigarette bittet.
Ella ist die dritte Frau dieses Buches. *DREI* und sie ist die große Überraschung. Mehr verrate ich nicht. Spannend bis zum letzten Satz und ja es ist ein Krimi vom Feinsten. Tatsächlich ein literarischer Krimi, in dem das Verbrechen gar nicht unbedingt im Mittelpunkt steht.
Lesen darf man das feinfühlige Eintauchen in das Leben dreier Frauen in ihren unterschiedlichen Lebenssituationen und in der Begegnung mit diesem großen Unbekannten namens Gil, bei dem es dabei bleibt, dass man bis zum Ende wenig über ihn, sein Leben, seine Antriebe *warum* nichts erfahren wird. Es bleibt im Ungewissen, so dass der Leser sich gedanklich selber damit auseinandersetzen kann, warum wieso das alles so geschehen ist in den Beziehungen mit diesen Frauen. Das machte das Buch am Ende so interessant und lesenswert auch.
Was auf jeden Fall bleibt ist das Nachdenken über die eigene Lebenssituation über Vertrauen das selber in Menschen gesetzt wird und vielleicht sogar der Rückblick auf eigene damals scheinbar unüberwindliche Situationen und das Geschaffthaben.
Mein Resümee ist, Vertrauen braucht der Mensch um in dieser Welt zu bestehen, jedoch sollte auch ein Misstrauen vorzufinden sein, was auch nicht schwer fällt, mir jedenfalls, wenn man die Heuchelei, das sich Anbiedern, die unter den Seilschaften schwelenden Urteile übereinander beobachtet. Ein gesundes Misstrauen schützt den Menschen vor all zu viel Enttäuschungen. Das Leben ist und bleibt halt ein Menschenzoo, ein Aquarium, in dem sich alles tummelt und es ist gut, das Ziel nie vor den Augen zu verlieren, immer man selber zu bleiben und sich nicht verbiegen zu lassen, auch wenn man alleiner bleibt wie die Anderen.
Wenn ich einkaufen gehe, mache ich mir zuvor meist einen Einkaufszettel. Manchmal, wenn ich weiß, dass ich in der jeweiligen Woche nur einmal in den Supermarkt meines Vertrauens brauche, sammele ich bis zu dem Tag an dem ich los marschiere meine Notizen der gebrauchten Waren auf diesem.
Manchmal ist es so, dass ich schon schon fast vor meinem Supermarkt des Vertrauens angekommen beim Fühlen in meine Mantel oder Jackentasche, um ihn hervorzuholen, denke verdammt. Vergessen. Den Einkaufszettel. Mist. Da liegt er jetzt auf meinem Schreibtisch. Sagt mir meine Erinnerung. Nützlich und doch unnützlich. Weil..was soll ich mit einem Einkaufszettel, wenn ich ihn da, wo ich ihn brauche, nicht habe. Verhext. Völlig umsonst. Festgehalten. Alles.
Während ich meinem Chip für das Loslösen eines Einkaufswagens in der Geldbörse suche überlege ich krampfhaft, was alles drauf stand und wozu ich dieses und jenes brauchte, um für die nächste Woche versorgt zu sein. Zumeist, stelle ich dann fest, habe ich alles im Kopf. Bin dann immer glücklich. Dass es doch noch funktioniert. Das Gedächtnis. Weil, manchmal lässt es mich auch im Stich. Dann, wenn ich gerad mal was von einem Film erzählen will und die Handlung so präsent ist wie nix, aber himmikruzitürken der Titel fehlt. Oder der Autor des Romans den ich vor Wochen gelesen habe, der Titel ist da, aber der Name ist verschwunden, von dem, der es schrieb. Das Buch.
Den Einkaufswagen durch die Gänge schiebend rekonstruiere ich dann meinen Einkaufszettel. Versuche die Reihenfolge gedanklich nachzukonstruieren. Zu 95% klappt das dann auch. Zu Hause angekommen, die Taschen ausgepackt, fehlte nix. Nur ganz manchmal ist mir ein oder auch schon mal zwei der Dinge, die drauf standen durch die Lappen gegangen. Die werden dann ganz einfach auf einen neuen Einkaufszettel geschrieben. Für die nächste Woche, so sie nicht überlebenswichtig für die anstehende waren. Sollten sie es gewesen sein, bleibt mir nix anderes übrig, als meinen Weg zum Supermarkt des Vertrauens noch einmal zurückzulegen. Denn wie sagt ein altes Sprichwort: Was du nicht im Kopf hast, musst du in den Beinen haben. Und es ist wirklich eins der unzähligen Sprichwörter, die einfach unterschrieben werden können, weil es einfach wahr ist.
Zuhause hab ich ein kleines Kästchen. Da liegen sie drin. Die Einkaufszettel. Nein, nicht die meinen vergessenen. So weit geht es dann doch nicht. Wer will schon wissen, was er vor Monaten einkaufen wollte. Völlig uninteressant. Obwohl? An Einkaufszetteln kann zuweilen viel ab- und heraus gelesen werden. Schon an der Schrift kann man erkennen, ist er schnell hingehuscht worden oder wurde er buchhalterisch bis ins kleinste durchdacht und sogar der Reihenfolge der angebotenen Waren eines Supermarktes aufgelistet. Das schafft ja immerhin Erleichterung beim Einkauf. Man rennt nicht konfus von einem zum anderen Ende. Wohlgemerkt, es muss dann natürlich immer der Haussupermarkt sein, zu dem man gewöhnlich geht. Sonst nützt es ja nix.
Je nachdem, womit der Einkaufszettel beschrieben wurde, z.B mit vielen Putzmitteln, könnte es sein oha der Einkäufer hat einen Frühjahrs- Weihnachtsputz oder einen ganz einfachen nun-aber-endlich-mal-wieder-schon-lange-nötig Putztag vor. Und manchmal denkt man, sollte ein solch beschriebener Einkaufszettel von Irgendjemandem gefunden werden, hättest du bei dir auch mal nötig. Und schwups prüft man zuhause seine eigenen Vorräte, holt seinen eigenen Einkaufszettel und schreibt die fehlenden Dinge druff. Kann doch sein.
Oder es ist eine Einkaufsliste von den wunderbarsten Köstlichkeiten aller Art. Da hat man den Gedanken, ein ganz besonderes Festessen zu einer besonderen Angelegenheit soll da zelebriert werden. Schließlich macht man ein aufwendiges Menü ja nicht jeden Tag. Die Fantasie kann da so herrlich walten. Wobei ja klar ist, wenn da z.B. auf einem Einkaufszettel steht, Tiefkühlpizza, Energiedrinks, Chips und Bier, weiß man doch gleich, ist klar, lange Nerdnacht am Heim-Pc. Ok ok ok kann auch ein Filmabend sein. Kein vernünftiger Mensch ernährt sich einfach so mit diesen Dingen, wohl möglich noch romantisch bei Kerzenlicht am Küchentisch. Obwohl...Es gint ja Nix, was es nicht gibt. Egal..
So schau ich grundsätzlich auch immer interessiert bei Schlangen an Kassen was denn die Vordermänner so auf das Fließband legen. Da wird mir nie langweilig. Ich finde das interessanter als in das viereckige Ding, ihr wisst schon, zu glotzen, weil man, wenn man dann von den Waren auf die Einkäufer schaut, auch gleich eine kleine Alltagssoziologiestudie vornehmen kann. Natürlich alles unter Vorbehalt.
Jedenfalls... neulich, um zu meinem kleinen Kästchen der gefundenen Einkaufszettel, irgendwo auf dem Bürgersteig oder im Einkaufswagen liegengebliebene, zurückzukommen..fand ich mal wieder einen kleinen, feinen in leserlicher Handschrift gestalteten. Interessiert hob ich ihn auf und studierte ihn.
Da ich nix Besonderes vorhatte an diesem Tag und es Glückes Geschick auch tatsächlich mal warme Sonnenstrahlen gab zwischen den verstürmten und verregneten Tagen dieser Zeit, nahm ich die Gelegenheit wahr und setzte mich für einen Moment an meinen Lieblingsplatz, den Weiher meines nahen Stadtparks und studierte ihn. Den Einkaufszettel.
Es könnte angenommen werden, dass das Studieren von Einkaufszetteln anderer Leute doch weniger aufregend ist, als ein Büchlein zu lesen oder die aktuellen Tagesnachrichten. Könnte man. Das ist jedoch nicht so. Bei mir jedenfalls. Denn zumeist, wenn ich genügend Zeit habe, verfüge ich über eine reiche Fantasie. Ich erzähle mir anhand eines solchen Einkaufszettel dann selber kleine Geschichten über den Menschen, der ihn verloren hat oder einfach achtlos nach seinem Einkauf auf den Bürgersteig hat sinken lassen. Vielleicht ist er ihm auch aus der Tasche gerutscht beim Hervorholen eines anderen Gegenstandes.
Ist die Handschrift sauber, akurat, ordentlich und sehr gut lesbar ist es bestimmt eine Frau gewesen. Ich weiß jetzt nicht, ob eine Statistik das beweisen würde, ob die Handschrift einer Frau überwiegend leserlicher, gar schöner ist als die eines Mannes. Es sagt mir aber meine eigene Erfahrung mit handschriftlichen Texten, zu denen ich im Laufe meines Lebens Zugang hatte von Frau und Mann. Denn tatsächlich ist es auch schon vorgekommen, dass ich über eine Postkarte einer mir näher vertrauten Person ein paar Tage gebraucht habe, bis ich den Text vollständig entziffert hatte. Soll vorkommen. Ganz wirklich. Solange ich den Text lesen kann, wie lange ich auch immer dazu brauche, ist es mir auch wurscht. Für seine Handschrift ist ja letzten Endes jeder selbst verantwortlich. Und ich schrieb es ja auch einmal, ich mag handgeschriebene Texte, Briefe etc... Die sagen doch viel mehr aus über den Menschen und möglicherweise über das Befinden desjenigen zu dem Zeitpunkt, an dem der Text geschrieben wurde. Ist so. Hingegen ist eine Nachricht über das all so beliebte Whats-Dingens-Gedöns oder eine Email doch viel undefinierbarer diesbezüglich. Nicht mal einen Schreibfehler kannst du mehr erkennen, denn das Schreibprogramm merzt sie zumeist aus, so es denn angestellt ist.
Wie auch immer, diesen in meiner Hand befindlichen Einkaufszettel konnte ich lesen und stellte mir in diesem Falle eine Frau vor, die sich ob der einzukaufenden Dinge auf diesem
darauf vorbereitete etwas sehr gutes und leckeres zu kochen. Da es noch recht früh am Nachmittag war, musste es meiner Fantasie nach eine Frau sein, die keinen, zumindestens an diesem Tage, 8-Stunden-Tag absolvierte oder möglicherweise war sie gar nicht berufstätig und hatte viel Zeit, so wie ich. Anhand der Lebensmittel, die sie besorgt hatte, schloss ich auf ein schnelles, einfaches, jedoch sehr köstliches Mittags- oder Abendmahl. Dass es sich um ein Mahl für 2 Personen handelte, entnahm ich der Nachspeise, die sie eingekauft hatte. Es war nämlich ein Fertigprodukt und das 2 mal, ergo...wenn sie nicht für 2 Tage nur für sich allein kochen wollte, lag das auf der Hand.
Da saß ich jetzt im warmen Sonnenlicht und ließ einfach eine kleine Alltagsgeschichte vor mir ablaufen. Wie die Frau nach Hause kommt, ihre Taschen ausleerte, wegräumte, was sie nicht brauchte und sich an die Zubereitung des Essens begab. Wie sie in der Küche stand, hackte und rieb, dabei in guter Laune sich befindend, den Song aus dem Radio oder der CD mitträllerte und voller Vorfreude auf den schön gedeckten Tisch mit den Köstlichkeiten war. Ihr die Zwiebel, wie mir im übrigen auch immer, die Tränen in die Augen trieb und das Abreiben des Käses ein kleines Malheur mit sich brachte, da sie beim Endstück nicht aufpasste und sich einen kleinen Finger blutig schrubbte. So was kann passieren. Es gibt nix Sinnlicheres als all die Dinge selber zuzubereiten, die man dann am Ende auf dem Teller hat. Auch wenn mal kleine Ungeschicke passieren. Eine kleine Alltagsmeditation.
Ich schrieb ihr zu, dass sich die Vorfreude auch auf den Mitesser bezog. Wahrscheinlich ist es ein Mann, ihr Mann oder eine gerade erst begonnene neue Verliebtheit. Jedenfalls fand ich diese Idee wildromantisch. Wie er dann an der Türe klingelte, sie ihn stürmisch begrüßte, er den Geruch, der aus der Küche vom Kochen durch die Wohnung zog, lobte und ihr gestand, wie sehr er sich auf sie und ein leckeres Essen jetzt gefreut habe nach einem langen Arbeitstag. Da saßen sie beide nun. Kerzenlicht, zwei Gläser mit Weißwein in der Hand haltend, auf den Tag und auf sich anstoßend, vielleicht auch auf die Zukunft und genossen das Sitzen am Tisch mit dem einfachen aber auch köstlichen Essen auf ihren Tellern und ließen den Tag Revue passieren.
Es hatte alles geklappt. Dank des Einkaufszettels. War nix vergessen worden. Sie hat ihn bedenkenlos verlieren können oder wegschmeißen. Für sie war er unnütz. Für mich war er an diesem Nachmittag nützlich. Er hat mir eine kleine Träumerei über menschliche Begebenheiten und Möglichkeiten in meiner Fantasie beschenkt. Und ich verrate meinen geneigten Leser jetzt noch etwas. Ich habe aus den von ihr eingekauften Lebensmitteln ein paar Tage später selber etwas gekocht. Ich musste etwas dazu einkaufen. Das meiste hatte ich aber daheim. Ich verrate Euch jetzt, was ich auf dem Tisch hatte, dann könnt ihr Euch zurecht fantasieren, was auf dem Einkaufszettel alles stand und ob ich es allein oder zu Zwein oder zu Drein genossen habe.
Es gab:
Einen kleinen Salat
Arborio-Reis
Mousse au chocolate
Weißwein
Tja, es sind nicht viele da. Einkaufszettel. In meinem kleinen Kästchen. Aber zu jedem hab ich tatsächlich eine kleine richtige Geschichte geschrieben. Daher bewahre ich sie auf.
Noch nie habe ich ein so sperriges Buch gelesen, wie dieses von John Burnside, das ich heute gerne vorstellen möchte. Und obwohl es so sperrig ist, hab ich es in mein Herz geschlossen, mag es unendlich gern und freue mich, dass dieses Buch zu mir gefunden hat. Wie auch die Menschen, die sperrigen, schwer zugänglichen, schrägen und widerspenstigen, die ich im Laufe meines Lebens gefunden und manchmal auch wieder verloren habe. Der Hang zum Sperrigen, Nichtangepassten und Widerspenstigen liegt mir inne, wie mir einmal nachgesagt wurde. Warum? Ich weiß es nicht. Vielleicht weil es auch ein wenig in meiner Natur liegt.
John Burnside wurde 1955 in Schottland in eine Arbeiterfamilie hineingeboren. Mir war er bisher nicht bekannt, obwohl er einer der profiliertesten Autoren der europäischen Gegenwartsliteratur ist. Seine Lyriken und Romane wurden vielfach ausgezeichnet u.a. auch mit dem Corinne-Belletristikpreis des Zeit-Verlages, dem Petrarca-Preis und dem Spycher-Literaturpreis. Gefunden hab ich ihn im Literarischen Quartett, in der Matthias Brandt vom tollsten Buch sprach, dass er seit langer Zeit gelesen hätte. War für mich klar. Am anderen Tag lief meine Bestellung.
Es ist der dritte Band seiner autobiografischen Erzählung, in der er Fiktion mit der Wirklichkeit seines Lebens in Verbindung bringt. Fast ein wenig Knausgardisch, dessen Bücher ich alle gelesen habe, jedoch weitaus tiefergehend in seinen philosophischen und gesellschaftskritischen Betrachtungen der Welt, in die er hinein gewachsen ist und diese seine Sichtweisen sich auch nicht im Wesentlichen beim Älterwerden verändert haben.
Es geht um Liebe, Magie, Begehren, Wildheit und Glamourösität, nicht nur bei den Menschen, sondern auch in den Dingen, denen er begegnet, Musik, Filme, Malereien, die ihm etwas bedeuten oder einfach ein Land, in das er sich verliebt hat und ihn magisch anzieht, wie Finnland, das er immer wieder besucht, weil er dort das Gefühl hat, zu Hause anzukommen, um dort seiner Einsamkeit und seinem Alleinsein bei langen Wanderungen, in denen er sich gar einmal im tiefsten Winter verlaufen hatte und in seinem Buch vom großen Glück erzählt, wieder zurückgefunden zu haben.
So erzählt er von seiner ersten Verliebtheit in seine zwanzigjährige Cousine Madeleine, er gerade mal 10 Jahre alt. Die erste Verliebtheit daran erinnert sich der Mensch immer gern. So eine erste Verliebtheit ist mir wohl verloren gegangen, jedenfalls kann ich mich nicht erinnern, in diesem Alter mich an irgendeinen Jungen verloren zu haben. Freundschaft ja, aber Verliebtheit? Aber vielleicht fehlt mir diese Erinnerung ja auch. Oder irgendwann ist sie einfach da, unerwartet, wie oft Erinnerungen an das Vergangene einen ganz plötzlich überfallen können.
Diese Madeleine verzaubert nicht nur seinen ersten Blick auf eine Frau, ausgenommen seiner Mutter, von der er sehr anrührend erzählt, sondern auch auf die Musik. Seine Mutter war Radiohörerin. Sie sang zu allen Zeiten die Songs der Radiohits bei ihrer Arbeit. Er nahm das zwar zur Notiz, aber diese Songs machten auch nicht viel mit ihm. Bis Madeleine eines Tages mit einer Schallplatte zu Besuch kam, sie auflegte und er vom ersten Augenblick wie erstarrt war. So etwas hatte er noch nicht gehört bisher. Und dieser Song, der da im Raum erklang, gesungen von Nina Simone *I put a Spell on you war das Schönste, was er je gehört hatte. Die gesamte versammelte Familie verstummte, um zuzuhören und als es vorbei war, saßen sie sprachlos am Tisch, bis sie ein zweites Mal abgespielt wurde.
Wie Burnside erst später entdeckt, hat Nina Simone den Titel nur übernommen. Wie so viele andere Künstler dann, CCR, The Who, Joe Cocker, Annie Lennox u.a.. Das Original stammt von Sreamin Jay Hawkins, über dessen schräges Leben, ein Unikum und Magier mit Wildheit ausgestattet, man dann erfahren kann.
Alle Kapitel des Buches sind mit dem Titel eines Songs einer Band verknüpft und es macht Spaß sich den alten Songs und Bands zuzuwenden und begleitend zum Buch die Titel zu hören. Habe da auch ein uraltes Schmankerl, dass in wilden Zeiten gehört wurde, wie Pere Ubu, wieder entdeckt, was jetzt nicht so nebenher zu hören ist und sich bisserl Zeit genommen werden muss um sich in diese schräge Band und ihre Musik hineinzuhören. Lohnt sich aber.
Aber vor allen Dingen lesen wir, wie er aufgewachsen ist, was ihn bewegt hat, wie er über Menschen und das Leben in der Gesellschaft, in der wir leben, denkt. Ich habe mir während des Lesens immer mal wieder sein Antlitz auf dem Buchdeckel angeschaut, das sich im übrigen, wie ich dann auf der Rezensionsseite des Deutschlandfunkes gesehen habe, sehr verändert hat, nicht nur sein Antlitz sondern auch seine ganze Gestalt. Dabei hab ich das Gefühl gehabt, dass die Dinge, über die er schreibt, die ihn selber betreffen oder wie er denkt, authentisch sind. Man kann ihm seine Störrig- und Widerspenstigkeit, seine Zweifel und Zerrissenheit einfach ablesen. Für eine Zeit hat ihn das sogar in eine psychiatrische Anstalt gebracht. Lange Zeit hat er sich dem Alkohol und den Drogen zugewendet, was wohl damit zusammengehangen hat.
Dabei ist ihm klar geworden, dass die vermeintlich Verrückten doch die richtigen Menschen sind. Richtig in dem Sinne, dass sie weder angepasst sind und den Mut haben, zu sagen, was sie denken. So schreibt Burnside, dass das offensichtliche Charakteristikum von Geisteskranken ihre völlige Missachtung dessen, was andere Leuten wichtig ist oder notwendig finden, während Außenstehenden ihr Gespür für das, was Geisteskranke wichtig finden - das Foto auf der Rückseite einer Müslischachtel, der reale oder nur eingebildete Moment eines fernen Sommermorgens, eine Redewendung aus einem Radiobericht, die sich wie ein Virus ins Gehirn drängt, um sich dort auszubreiten, bis kaum mehr Platz für irgendetwas anderes ist-, völlig rätselhaft bleibt.
Wie denkt er also über die Möglichkeit der Liebe zwischen zwei Menschen, die in so vielen Songs wildromantisch besungen und sehnsüchtig gewünscht wird. Das erfahren wir in dem Buch. Gibt es sie, die Möglichkeit der romantischen Liebe, von der die meisten Menschen träumen und kann sie wirklich ein Leben lang halten. Oder ist es so, falls wir sie finden, dass sie zu dem wird, was Ambrose Briece, amerikanischer Journalist und Schriftsteller einmal sagte:" Liebe - ein vorübergehender, durch die Ehe heilbarer Wahn"? Ist das, was der Mensch als Liebe empfindet oft nur ein kurzzeitiges sexuelles Verlangen, welches schnell erlischt, wenn die Gewohnheit eintritt. Oder müssen wir sie gar, wenn wir sie gefunden haben, loslassen, damit sie auf ewig Liebe bleiben kann?
Sollte dem Menschen eine ewig währende Liebe nicht vergönnt sein, so sei es doch wichtig, dass er nicht gänzlich allein durchs Leben geht. Denn um wirklich allein sein zu können, braucht es eine wahre Gemeinschaft, der man vertrauen kann. Ohne die bist du nicht wirklich allein, du versteckst dich nur. Das konnte ich für mich nur bestätigen. Es braucht ein paar Menschen, denen du dich nahe fühlst, auch wenn du immer ein Stück reserviert bleibst. Letzten Endes kann Niemand den anderen gänzlich verstehen.
Es ist wirklich ein tolles (Matthias Brandt) Buch, mit dem sich eingehender beschäftigt werden muss, weil es so vielschichtig ist, über das es nachzudenken sich lohnt.
Zum Vergleich der Song von Nina Simone und Sreamin Jay Hawkins
Ich werde die Welt nie wiedersehen...so heißt der Titel des von mir gerade ausgelesenen Buches, das mir mein Schwiegersohn zu Weihnachten schenkte. Er weiß genau, was ich mag.
Autor des Buches ist Ahmet Altan, türkischer Journalist und Schriftsteller, einer der größten seines Landes.
Als Journalist arbeitete er bei vielen türkischen Zeitungen, u.a. auch bei Hürriyet. 2007 gründete er seine eigene Zeitung *Taraf*, in der er auch selber Kolumnen schrieb. Das Anliegen seiner Zeitung war es, die größten Tabus zu thematisieren, wie den Völkermord an den Armeniern sowie die Diskriminierung der Kurden. Nach dem gescheiterten Putschversuch im Juli 2016 wurde seine Zeitung von der Regierung eingestellt. Er selbst und sein Bruder Mehmet Altan wurden festgenommen und inhaftiert. Beiden wurde vorgeworfen, mit Fethullah Gülen, der in den USA im Exil lebt, zusammengearbeitet zu haben.
Am 16. Februar 2018 wurden beide mit 5 anderen Journalisten zu lebenslanger Haft, er selbst mit erschwerten Bedingungen, verurteilt, obwohl sie unschuldig sind.
Im November 2019 wurde er freigelassen, um kurze Zeit danach erneut inhaftiert zu werden wegen Fluchtgefahr. Im ersten Prozess wurde ihm vorgeworfen, dass er am Putschversuch beteiligt gewesen sein sollte. Man wies auf ein von ihm und seinem Bruder gegebenes Fernsehinterview hin, was jedoch völlig aus der Luft gegriffen war. Ahmet Altan war Putschistgegner sowie Gegner jedweder terroristischer Angriffe. Aber genau darauf bezog sich dann das zweite Urteil, Unterstützung einer Terrororganisation. Deutlich erkennt man die Willkür, die von Erdogans Regime gegen ihn und gegen so Viele, angewandt wird. Im Buch liest man, wie die Prozesse abgelaufen sind, dass im Grunde die Urteile feststanden, die Richter gelangweilt die Sitzungen leiteten und man die Anwälte gar nicht anhören wollte.
Ein unglaublicher Einschnitt, völlig willkürlich, im Leben eines Menschen. Natürlich er ist nicht der Einzige, wie wir alle wissen. Und nicht nur in der Türkei geschieht dies. Um so wichtiger ist es, immer wieder, egal wo, auf diese unglaublichen menschenverachtenden Realitäten aufmerksam zu machen, wie es ja dem Himmel sei Dank auch von Reportern ohne Grenzen und Amnesty international unter Einsatz ihres eigenen Lebens gemacht wird.
Wie geht ein Mensch mit einem solchen Schicksal um? Was kann er dagegen halten in der Vergessenheit und Trostlosigkeit eines Gefängnisses.
Ich werde die Welt nie wiedersehen, war sein Gedanke, als er nach den ersten Tagen wieder zu sich gekommen ist. Den Himmel nicht mehr außerhalb der Gefängnismauern. Meine Liebsten nicht.
Ich möchte gar nicht so viel erzählen, nur den Wunsch hervorrufen, dass sein Büchlein von vielen Menschen gelesen wird. Es ist nicht nur ein politisches, sondern ein poetisches, philosophisches und zutiefst berührendes Buch.
Nur zwei Dinge, die mich ganz besonders beeindruckt haben. Das eine, dass der Mensch in jedweder aussichtslosen und tragischen Erfahrung seiner Lebensrealität eine andere Realität setzen kann. Er schreibt:
"Für alles, was uns in unserem Leben an bedrohlichen Situationen und gefährlichen Realitäten passieren kann, erwartet man von uns bestimmte Kommentare und Verhaltensweisen. Wenn wir uns diesen Schablonen widersetzen und Unerwartetes tun und sagen, sind es genau diese Realitäten, die aus dem Lot geraten und an den aufmüpfigen Wellenbrechern unseres Bewusstseins zerschellen. Und wir erhalten dadurch die Macht und das Vertrauen, uns aus den Trümmern dieser Realität eine neue Wirklichkeit zu schaffen"
Es kommt also darauf an, dieses unerwartete Verhalten zu zeigen und Dinge zu sagen, mit denen Niemand rechnet. So antwortete er z.B. in der Situation, als ihm ein Wärter eine Zigarette im Gefängnistransport anbietet: *Ich rauche nur wenn ich nervös bin"
Das ist natürlich nur ein kleines Beispiel. Dass er selber von sich sagt, dass er sich keinen einzigen Tag im Gefängnis gesehen hat, sondern dass er durch das Erschaffen anderer Realitäten, durch seine Fantasie, seine Träume durch die ganze Welt spaziert. Nur so überlebt er jeden Tag. Und natürlich die Literatur die er von anderen Autoren gelesen hat, die ihm in den Sinn kommen, die er auch im Buch benennt und sie teilweise zitiert, haben ihm geholfen. Zu Büchern hatte er kaum Zugriff, es war beschwerlich hin- und wieder eins aus der Gefängnisbibliothek für sich zu gewinnen. Tolstoi z.B. und sein Buch *Die Kosaken* darf er studieren.
Des weiteren hat mich stark beeindruckt, weil mir der Gedanke eigentlich noch nie gekommen ist, weil es für uns in Freiheit lebende Menschen so natürlich und selbstverständlich ist, dass das Fehlen eines Spiegels das ganze Selbst in Frage stellen kann. Kein Spiegel, kein Fenster, nichts da, worin du dein eigenes Antlitz entdecken kannst und somit eine tiefe Unsicherheit deiner selbst entstehen kann und man aufpassen muss, nicht den Verstand zu verlieren. Um den Verstand nicht zu verlieren aber kommt wieder das Setzen anderer Realitäten ins Spiel.
Am Ende des Buches sagt er:
" Ich schreibe diese Zeilen in einer Gefängniszelle.
Aber ich bin nicht gefangen.
Ich bin Schriftsteller.
Ich bin weder dort, wo ich bin, noch dort, wo ich nicht bin.
Ihr könnt mich ins Gefängnis stecken, doch ihr könnt mich dort nicht festhalten.
Weil ich die Zaubermacht besitze, die allen Schriftstellern eigen ist. Ich kann mühelos durch Wände gehen"
Beeindruckend oder?
Ich habe für mich darauf geantwortet, Schriftsteller muss ich nicht sein, solang ich selber über Fantasie und Kreativität verfüge, meine, wie auch immer möglicherweise schwere Realität zu ertragen, indem ich mir andere Realitäten, Welten schaffe. Das geht immer, wenn der innere Reichtum groß ist.
Ich hoffe und wünsche, dass er so durchhält. Dass eine Zeit kommen wird, die ihn wieder ins Leben wirft. Es darf nicht sein, was ist und geschieht. Dort, wo er jetzt ist in diesem Land und auch überall, wo Menschen in schrecklichen Lebenssituationen leben. Dafür muss gekämpft werden!
Ein großartiges Buch!
Ahmet Altan
Ich werde die Welt nicht wiedersehen - Texte aus dem Gefängnis -
Heute beginnt das neue Jahr. Ich möchte über ein Buch schreiben, das ich so gerne gelesen habe. Ich hätte das Buch schon vor ein paar Tagen vorstellen können. Es lag da immer und wartete. Heute erschien es mir jedoch, ist ein guter Tag, es vorzustellen.
Denn...in diesem Buch geht es um Menschen und um das Leben. Das Leben der Autorin und das der Menschen, die sie in ihrem Büchlein beschreibt. Gerade jetzt, wo das Neue Jahr beginnt und sich die Wünsche, der eigenen für die, die man mag und die, die von den Anderen an einen selber gerichtet wurden, sich doch immer auch um die Gesundheit, das Glück, die Zufriedenheit und die Freuden der kleinen und großen Dinge im Leben des nun neuen bevorstehenden Jahres, durch das wir schreiten werden, drehten.
Mit Wünschen meine ich nicht die unendliche Vielzahl von virtuellen unpersönlichen Glückwunschkarten und teils hirnlosen Videos die durch den Whatsapp-Kanal oder andere social-media-Seiten an einen geschickt wurden, sondern die ganz persönlichen, die, die noch eigene Worte gefunden haben, was bei diesem Wunschkartenvideoirrsinn immer mehr zu kurz kommt, als wenn die Menschen keine eigenen Worte mehr hätten.
Jedenfalls, wenn man das Büchlein von Katja Oskamp mit dem Titel *Marzahn Mon Amour ... Geschichten einer Fusspflegerin... liest, denkt man, dass das Wünschen für die Anderen und einen selbst im Grunde sinnlos ist. Denn das Leben macht sowieso was es will, mit einem selber und auch mit den anderen. Natürlich will ich damit nicht sagen, dass nicht gewünscht werden sollte. Das Wünschen gehört zum Leben, es sollte sich aber nicht darauf verlassen werden. Also, auf die Erfüllung dieser. Denn das Leben ist einfach unberechenbar. Ich selber habe das im vergangenen Jahr schmerzhaft erfahren müssen. Zwei Freunde, die ich über 40 Jahre kannte, sind mir verloren gegangen, Einige andere kämpfen weiter. So wie ich. Denn das Leben ist doch auch ein Kampf. In den seltesten Fällen geht alles glatt bis zum Ende.
Aber nun zum Buch. Katja Oskamp wuchs in Berlin auf. Sie studierte Theaterwissenschaften und arbeitete als Dramaturgin am Volkstheater Rostock. Ein weiteres Studium der Literatur verschlug sie nach Leipzig. Danach kehrte sie wieder zurück nach Berlin. In der Lebensmitte angekommen, der Erfolg als Schriftstellerin konnte sie nicht über Wasser halten, ihr Kind ist mittlerweile aus dem Haus, der Mann schwer krank, überfällt sie eine Lebenskrise, aus der hervorgekommen ist, dass sie sich einem anderen Beruf zuwenden muss, um das Leben und das ihres Mannes weiter finanzieren zu können.
Wie der Titel verrät, widmete sie sich der Ausbildung zur Fußpflegerin. Ein Buch über die Arbeit mit Füßen. Ich hätte mir vorher nicht vorstellen können, ein solches zur Hand zu nehmen. Warum auch? Obwohl. Füße. Füße sind doch die Körperteile, die den Menschen durch das Leben tragen. Und obwohl sie die Schwerstarbeit übernehmen, wird ihnen so oft kaum Bedeutung zugemessen. Geschweige vfon dem Schuhwerk zu reden, dass ihnen oft zugemutet wird. Erst, wenn mal was mit ihnen nicht mehr stimmt, werden wir auf sie aufmerksam, weil es plötzlich nicht mehr so leicht geht. So leicht. Durch das Leben gehen. Es heißt auch, dass an der Beschaffenheit der Füße eine ganze Menge über das Wohlbefinden der anderen Körperlichkeit, der Organe und die damit verbundenen Störungen, abgelesen werden kann. In einem Fuß befinden sich 26 Knochen, was bei beiden zusammengerechnet ungefähr ein Viertel aller Knochen unseres menschlichen Skeletts ausmachen, die mit 206 bis 215 insgesamt auszumachen sind. Aber das könnt ihr ja alles bei wiki nachlesen.
Aufmerksam geworden bin ich auf das Büchlein durchs literarische Quartett. Besetzt ist dieses (noch) von Christine Westermann, Volker Weidermann (den ich sehr schätze und der leider in der nächsten Sendung nicht mehr dabei sein wird, warum auch immer) und Thea Dorn (die ich immer schon doof fand,) und dazu kommt immer ein geladener Gast. In der letzten Sendung war es Matthias Brand, jüngster Sohn Williy Brandts, den ich gern als Schauspieler sehe, ihn aber auch ebenfalls als Autor mag. Sein Büchlein *Raumpatrouille* kann ich bei dieser Gelegenheit nur empfehlen.
Man kann auf die Idee kommen, so ein Buch über die Fußpflege kann ja nur von einer Frau empfohlen werden. Männer lesen so was bestimmt nicht. Irrtum. Gerade Matthias Brandt stellte das Büchlein mit Wohlwollen vor. Die Diskussion ergab, dass um es ein warmherziges, nur zu empfehlendes geht, das Katja Oskamp hier über die Menschen, die sie tagtäglich in ihrem Studio behandelt, das zwar keine hochgeistige Literatur sei, dennoch auf seine ganz eigene humorige, charmante und wohlwollende Sicht auf die Menschen gern gelesen wurde. So hab ich es mir, wie auch zwei weitere dort empfohlener Büchlein sogleich besorgt.
Schon die worte des Anfangs haben mich für das Büchlein eingenommen. Ich zitiere sie hier:
"Die mittleren Jahre, in denen du weder jung noch alt bist, sind verschwommene Jahre. Du kannst das Ufer nicht mehr sehen, von dem du einst gestartet bist, und jenes Ufer, auf das du zusteuerst, erkennst du noch nicht deutlich genug. In diesen Jahren strampelst du in der Mitte des großen Sees herum, gerätst außer Puste, erschlaffst ob des Einerleis der Schwimmbewegungen. Ratlos hälst du inne und drehst dich dann um dich selbst, eine Runde, noch eine und noch eine. Die Angst, auf halber Strecke unterzugehen ohne Ton und ohne Grund, meldet sich"
Wer diese Zeit schon erlebt hat, weiß und stimmt der Autorin unbedingt zu. So ist es. Selber habe ich das auch so empfunden. Damals. Als die Kinder in die Pubertät kamen. Ich überlegte, was dann, danach, wenn sie dann ganz aus dem Haus sind. Wieder einsteigen wollte ich. Um nicht abhängig zu sein. Mein eigenes Leben wieder auf Schwung bringen. Meinen Beruf als Rechtsanwaltsfachangestellte, ich leitete zuvor als Bürovorsteherin eine kleine Kanzlei, erschien mir nicht mehr wünschenswert, ihn auszuüben. Wollte mehr mit Menschen zu tun haben, als mit Paragraphen. Und vor allen Dingen mit Büchern. Denn die waren meine besten Freunde. Also sattelte ich um, wurde Buchhändlerin...bin glücklich damit geworden.
So auch, wie man am Ende des Büchleins von Katja Oskamp erfährt, sie ebenfalls mit Ihrer Umstrukturierung ihres Erwerbslebens.
So ganz nebenbei erfährt man so einiges über Berlin, insbesondere über Berlin-Marzahn, in dem Katja mit ihrer Chefin und einer weiteren Kollegin in einem Kosmetikstudio arbeitet, in dem sie selber ihre Fußpflegetätigkeit betreibt. Warmherzig beschreibt sie auch das Miteinander dieser drei Frauen, die sich blendend verstehen, die zusammenhalten und alle drei die gleiche wohltuende und wohlgesonnene Sicht auf ihre Kunden inne haben. Es gibt keinen Zickenalarm. Das allein schon ist wohltuend zu lesen. Denn das ist unter Frauen ja recht selten. Wie Marzahn entstanden ist, damals noch zu DDR-Zeiten. Dass Marzahn hundehaltermässig an der Spitze Berlins liegt, gefolgt von Reinickendorf und Spandau. Ganze elftausend Hunde sollen dort registriert seien. Ich bin nun mal Hundefan, daher fand ich es interessant. Oder dass es eine Attraktion zu sehen gibt, den Skywalk, eine Spezialkonstruktion aus Metall, auf die man mit dem Fahrstuhl in den 21. Stock Stock eines Doppelhochhauses gelangt. Er liegt in der Raoul-Wallenberg-Strasse 40/42, steigt weitere Stufen hinauf, verlässt den gewaltigen Turm, um über weitere, nun frei schwebende Gitterstufen in windigen Höhen zu erklimmen, um an den eigenen Füßen vorbei in die Tiefe schauen kann. Auf der Aussichtsplattform dann aus 70 m Höhe hat man einen grandiosen Blick über die Marzahner Promenade, über von Baumkronen durchsäumte Hochhausketten, über die ganze Stadt hinweg bis zum Fernsehturm, bis zum Müggelsee und bis zum Flughafen Schönefeld und den dahinterliegenden Brandenburger Weiten.
In diesem Doppelhochhaus wohnt auch einer ihrer Kunden. Ein Mann. Der Fritz. Der Fritz mit den wunderbaren Füßen, in die sich Katja sofort verliebte. Fritz ist ein schüchterner Mann. Er entschuldige sich beim ersten Mal seines Besuchs bei ihr wegen seiner Füße. Das tat fast jeder, der zu ihr kam, aus unterschiedlichen Gründen. Nur die, die es besonders nötigt gehabt hätten, taten es nicht. Das kommt ja oft vor auch in anderen Situationen des Lebens. Dass sich Menschen für etwas entschuldigen, was im Grunde Peanuts sind, aber die, die es nötig hätten, kämen nicht mal auf die Idee. Katja schließt bei Neukunden mit ihren Kolleginnen immer Wetten ab: Folgetermin?...Trinkgeld?...Entschuldigung...Bei Entschuldigung tippe sie immer auf *ja*... Ob Polier vom Bau oder eitler Ganzkörpertätowierter, ob Schwangere oder Greisin, ob geistiger Tiefflieger oder Akademiker, wirklich fast jeder entschuldigt sich, wenn er in ihrem Fußpflegeraum zum ersten Mal die Schuhe und Socken abstreift, für seine Füße. Es spielt zumeist auch keine Rolle, in welchem Zustand diese Füße sind. Es ist einfach ungewohnt und neu, fast schon peinlich seine Füße einem anderen zu überlassen.
Natürlich erfahren wir mehr über Fritz, aber auch von Frau Guse, die regelmäßig kommt und ihre Lebensgeschichte immer wiederholt, so dass Katja ihr ihre Beschwerden schon aufzählen kann und dennoch nie genervt ist.
Und von Herrn Paulke, der bei seinem ersten Besuch bei ihr die Frage stellt:" Wissense, wo Se hier sind? Uff de Scheiße von Berlin. Dit warn früher allet Rieselfelder, und denn hamse Hochhäuser hinjeklotzt. Wo de Erde uffjebuddelt is, könnset noch riechen"
Da ist Frau Blaumeier, eine ihrer lustigsten Kunden mit richtiger Berliner Schnauze. Sie ist Mitte sechzig, wirkt aber zehn Jahre jünger. Sie wohnt im gleichen Haus, in dem Katja ihr Studio hat. Manchmal, wenn Katja draußen in der Pause eine raucht, sieht Frau Blaumeier sie und winkt ihr zu aus ihrem schnittigen Elektromodell, mit dem sie durch die Gegend düst wie ein Rennfahrer. Bei Frau Blaumeier wurde mit einem Jahr Polio diagnostiziert. Sie kam in die eiserne Lunge, mit vier Jahren wurde sie entlassen. Ihre Eltern sagten zu ihr:" Du hast ein paar Einschränkungen. Aber du bist nicht krank" Und so habe sie auch gelebt. Ein bewegendes tapferes Leben.
Eine möcht ich noch erwähnen, neben den vielen anderen folgenden, Frau Frenzel, die schon 70 Jahre auf dem Buckel hat. Und deren Blick auf die Welt voller Verachtung ist und die sich von Nichts und Niemandem die Laune verderben lässt. Frau Frenzel trägt eine Vokuhila-Bürstenschnitt-Frisur. Da musste ich erst mal googeln. Die schaut so aus wie bei Rod Stewart damals. Kennt man doch. Nur den Namen kannte ich nicht. Katja muss immer denken, wenn sie Frau Frenzel sieht, sie lässt sich ihre Frisur in einem Hundesalon machen.
Frau Frenzel weiss alles über A-B und C-Promis. Costa Cordalis z.B.." Der hat sich ausm Hintern Fett ins Jesicht spritzen lassen, erzählt sie. Wennse den küssen, knutschense den sein Arsch!* Oder Julia Roberts, die sich Hämorrhoiden-Salbe ins Gesicht schmiert. Dit soll irjendwie ne straffende Wirkung haben. Und wenn sie so ihre Geschichten über die prominente Welt erzählt, kringeln sich beide immer, sie, Frau Frenzel und Katja. Frau Frenzeln ist sich auch sicher, dass Tiere sprechen können, sie würden nur nich wollen! Einfach so herrlich.
Insgesamt erzählt sie Geschichten von 15 Kunden, deren Leben und ihrer gemeinsamen Unterhaltungen, die sie während der Behandlung ihrer Füße mit ihnen pflegt. Bewegende, berührende, humorige, traurige und liebenswerte Menschengeschichten, wie ich sie selber auch liebe und ebenfalls damit Erfahrungen mache in meinen Betreuungen alter, gebrechlicher oder behinderter Menschen. Es gibt nichts Schöneres als vom Leben anderer Menschen sich erzählen zu lassen. Man muss jedoch ein guter Zuhörer sein. Viel kann gelernt werden, was einem dann selber auch nützt. Oft auf jeden Fall...Es ist nichts schwer, wenn man es nur leicht nimmt!
Katja übt diesen ihren neuen Beruf mit viel Liebe und Gelassenheit aus. Selbst auf dem Weg zur Arbeit gönnt sie sich ihre ganz eigene Ruhe. Manchmal schlendert sie durch den Parkfriedhof morgens um acht Uhr zur Arbeit. Sie nimmt dann auf, wie frisch das Gras in der Früh noch riecht, die Vöglein zwitschern und die Eichhörnchen einander jagen. . Hin- und wieder bleibt sie an Grabstellen stehen und liest die Namen der Verblichenen. Viele Russen sind zu finden. Es ist schön, sagt sie, morgens in der Früh über einen menschenleeren Friedhof zu spazieren. Das ist auch mir nicht fremd. Ich gehe auch gern auf Friedhöfe. So schöne, stille Paradiesgärten oft mitten im Stadtgewimmel. Sitz da manchmal auch mit meinem Buch im Frühling im Sonnenschein und lese, fühle mich pudelwohl. Es ist schön, wenn sich zur Arbeit nicht abgehetzt werden muss, sondern man noch hie und da etwas von der Welt wahrnehmen kann, wie sie tickt außer dem Normalwahnsinn.
Alles in allem ein sehr hübsches, warmherziges Buch über Menschen und den Umgang mit ihnen, im Alltag und im Berufsleben. Man wird drauf aufmerksam gemacht, dass jeder, der uns begegnet in unserem Leben eine Geschichte hat. Und sie lädt uns dazu ein, vielleicht, wenn die Möglichkeit besteht, mal genauer hin zu hören und zu schauen, um auch mal von sich selber wegzuschauen.
Menschen, die uns allen auch jetzt wieder im Neuen Jahr über den Weg laufen, neue Bekanntschaften, Begegnungen irgendwo, irgendwie, die, die wir schon lange kennen.