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7. Januar 2025 2 07 /01 /Januar /2025 11:46
Das Buch von Gabriele von Arnim, welches ich heute empfehlen möchte, ist schwere Kost. Zuvor hatte ich noch nie etwas von ihren Werken gelesen. Das Buch *Das Leben ist ein vorübergehender Zustand* wurde in meinem Literaturkreis empfohlen, also war es für mich ein Muß. Wahrscheinlich hätte ich von mir aus nicht zu diesem Buch gegriffen, weil es eine biografische Erzählung ist, die auch ein wenig Angst machen kann. Angst genau vor dem, was in von Arnims Leben eingetreten ist.  Aber schon nach einigen Seiten hat es mich gefangen genommen.
 
Gabriele von Arnim beschreibt ihre Lebenssituation in der sie sich 10 Jahre befand, nachdem ihr Mann mit einem Schlaganfall ins Krankenhaus eingeliefert wird. Genau an dem Tag, an dem sie ihm am Abend klar machen wollte, dass ihre Beziehung am Ende sei und sie sich trennen möchte. Aber dann kam der Anruf. Er liege im Krankenhaus.
 
Ein Schlaganfall. Der Erste, gefolgt von einem zweiten, Lungenentzündungen, Thrombosen und schwerem Dekubitus innerhalb der 10 Jahre, in dem sie ihn zuhause gepflegt und betreut hat.
Ihr Mann, Martin Schulze,  war Journalist und zeitweise auch Chefredakteur bei der ARD. Ein unabhängiger, freiheitsliebender und sportlicher  Mensch, der es liebte von Menschen umgeben zu sein, sehr sprachgewandt sich mit vielen Themen auseinandersetzte und dafür auch große Anerkennung bekam.
 
Sie verließ ihn nicht. Sie bleibt bei ihm und wurde in dieser Zeit selbst schwer krank. Die Situationen  in diesen 10 Jahren beschreiben alles Menschliche, daß in einem vorgeht, wenn man plötzlich gefangen ist von der Sorge, dem Leiden und der Not des Partners. Sie nimmt kein Blatt vor dem Mund und ist absolut ehrlich, dass sie an ihre Grenzen kam, dass sie Wut auf den Leidenden empfand, aber dass aus all dem Schweren im Umgang mit ihm, der Sorge und den ständigen Herausforderungen aus immer wieder neuen eintretenden krankheitsbedingten Einbrüchen, wieder eine Liebe daraus zueinander ganz neu begann.
 
Aber sie beschreibt nicht nur die Erfahrungen im Umgang mit ihrem kranken Mann, sondern auch die Begebenheiten die ihr und ihrem Mann widerfuhren im Freundes- und Bekanntenkreis.
Denn wie sagt es ein afrikanisches Sprichwort, auf dass sie sich in Ihrer Erzählung beruft:
 
"Es braucht ein ganzes Dorf um ein Kind zu erziehen"
 
Denn ihr wird klar, dass es auch ein ganzes Dorf braucht, eine Umgebung, eine Großfamilie, die einfach da ist und einen nicht im Stich läßt.
 
Und diese Erfahrungen mit Freunden und Bekannten sind sehr unterschiedlich. So erzählt sie z.B. an einer Stelle, als ihr Mann sich immerhin noch im Rollstuhl bewegen konnte, wie ein Freund zum runden Geburtstag einlädt und sie ihn fragt, wie denn die Gegebenheiten beschaffen wären, mit dem Rollstuhl in seine Wohnung zu kommen und er darauf antwortet:" Wir haben Dich eingeladen" Ein Freund.
 
Andere sagen, wir wollten ihn ja besuchen, aber wollten auch nicht aufdringlich sein. Oder sie redeten sich heraus mit er will doch sicher nicht so gesehen werden, sondern in unserer Erinnerung so bleiben, wie er war, ein eloquenter Gesprächspartner, amüsant und wissensvermittelt, dem man gerne zuhörte. Aber das war er nicht mehr.
 
Doch es gibt auch gute Erfahrungen. Von Arnim organisiert fast 20 Menschen die kamen um ihrem Mann vorzulesen, aus Büchern und Zeitungen und ihm damit das Geschenk machten, dass er auch weiterhin mit der Welt verbunden war. Andererseits war es auch sehr schwer mit anzusehen, wie er gerne hätte über das Gehörte reden, diskutieren, sich austauschen wollte, aber es nicht mehr ging.
 
Und da waren auch Freunde, Bekannte, die kamen um ihr bei der Wache zu helfen, damit sie mal eine Runde spazieren gehen konnte oder einfach in ein Cafe, um auch mal wieder zu sich zu kommen, denn ihr Leben bestand ja nur noch aus Sorge, Mitleiden und Organisieren des Tagesablaufes und wieder und wieder erneutem begleiten in Krankenhäuser und Rehabilitationszentren. Natürlich hatte sie auch eine Pflegerin für die schweren körperlichen Arbeiten. Aber insgesamt blieb sie in diesen 10 Jahren ans Haus gefesselt und musste auch sehen, worin sie sich Trost und manchmal auch ein  wenig Ablenkung schaffte. Sie bezog sie aus ihren Büchern, die sie las, sei es von Arno Gruen (den ich ebenfalls liebe), Rachel Cusk oder Davod Grossman, dem israelischen Schriftsteller, der ein Buch über die Trauer des Verlustes seines Sohnes im Krieg geschrieben hatte, dass ich auch vor einigen Jahren gelesen habe.
 
Manchmal waren es auch einfach nur ganz kleine Dinge, die ihr wieder Luft zum Atmen gaben, ein Glas Wein am Abend, ein Blick aus dem Fenster. Das war für sie manchmal entscheidend um wieder Kraft zu gewinnen.
 
Übrigens hat Gabriele von Arnim das Buch nicht während der Krankheit ihres Mannes geschrieben, sondern erst Jahre nach seinem Tod, weil eine Freundin ihr dazu geraten hatte. Hilfe dazu gaben ihr ihre vielen Tagebucheintragungen, die sie im Laufe der Jahre gemacht hatte.
 
Auch  über das Leben nach seinem Tod, berichtet sie in ihrem Buch. Wie sie sehr langsam wieder zurück ins Leben fand, in ihr eigenes Leben. Es gibt einen Satz von Rilke, der sagt:
 
"Die Toten sterben in uns hinein."
 
Was für sie nichts anderes hieß, sie hat ihn mitgenommen in ihr Leben ohne ihn. Er war nicht tot, weg. Ich kannte diesen Satz von Rilke nicht, aber er zeigte mir, dass es so ist, denn wenn ich auf mein eigenes Leben und den Menschen, die mir schon genommen wurden, zurückblicke  kann ich das bestätigen, sie sind immer noch da, in mir, durch die Erinnerungen an gemeinsame Erlebnisse oder einfach an Gespräche die wir geführt haben oder manchmal auch einfach nur durch mein Reden mit ihnen in meinem Gedanken, wenn ich sie frage, was würdest du dazu sagen oder da hätten wir zwei aber wieder tüchtig abgelacht. Ja so ist es. Die Toten sterben in uns hinein.
 
Ich kann das Lesen des Büchleins von Herzen empfehlen, denn es erzählt nicht nur vom Leid und der Schwere eines Einbruchs im Leben eines Menschen, der seinen Partner oder einen guten Freund an eine schwere Krankheit verliert und für ihn da sein möchte, sondern auch von Liebe, Hoffnung, Würde und Freundschaft.
 
Und es zeigt uns auch was wichtig ist im Leben, Mitgefühl und Achtsamkeit auf und mit den Menschen zu haben, die mit uns leben. Unsere Welt ist eher geprägt davon, dass Menschen, die krank sind oder anders schwach, nicht gesehen werden wollen und die irgendwo leben, wo man sie am besten nicht sehen muss.
 
Unsere Welt ist eine Leistungsgesellschaft, in der Kranke und andere Bedürftige keinen Platz haben, Jeder hat sicher schon einmal erfahren, dass genau dann, wenn er einen Freund brauchte, dieser nicht da war oder man vielleicht selber nicht da war, als ein Anderer uns brauchte.
 
Jedes Leben hat eine Geschichte zu erzählen. Wir sollten alle unsere Geschichten erzählen, vielleicht gerade auch deswegen, damit wir besser verstanden werden und wir sollten alle Geschichten über das Leben Anderer lesen, damit wir das Leben besser verstehen können! Geschichten zu erzählen heißt auch, zu leben!
 
Zitat Arno Gruen aus ihrem Buch:
Ein Mensch, der den Weg nicht findet zu seinen eigenen Gefühlen, zu einem Selbst, wird nicht autonom, sondern angepaßt leben. Wird sich der Gesellschaft unterwerfen, ihre Regeln übernehmen, sich selbst entfremdet bleiben. Was weder ihm noch der Gesellschaft gut tut. Denn jene Menschen, die Leid, Schmerz, Gefühle abgespaltet haben in sich, die keine Lebendigkeit fühlen, leben in der *Fixierung auf die Pose*. Sie brauchen Macht, Ruhm, Geld, Zerstörung, um ihre eigene innere Leere zu füllen*
(Ich liebe Arno Gruen)
 
Gabriele von Arnim
Das Leben ist ein vorübergehender Zustand
Rowohl-Verlag
14,00 Euro
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
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22. November 2024 5 22 /11 /November /2024 11:43
Für den Roman *Der Freund* bekam Sigrid Nunez den National Book Award. Es ist nicht ihr erstes Buch. Nunez schreibt seit den 70er Jahren. Der Freund ist ihr 7.tes Buch. Was es über sie zu sagen gibt kann man bei wikipedia nachlesen: https://de.wikipedia.org/wiki/Sigrid_Nunez.
 
Das Buch ist mir beim Stöbern in meiner Buchhandlung des Vertrauens in die Hand gefallen. Der Titel hatte mich angezogen und der auf dem Cover des Buches sitzende große Hund eine Harlekin-Dogge. Und nach kurzem Einblick gehörte das Buch mir, denn es ging um Freundschaft. Freundschaft der Protagonistin nicht nur zu einem Mann, der, Schrifsteller wie sie war und den sie verloren hat. Er hatte im fortgeschrittenen Alter den Freitod gewählt. Unangekündigt. Es gab keinen Abschiedsbrief.
 
Sie bekam die Nachricht von seiner dritten Ehefrau. Eine Welt stürzt für sie ein. Ihren Freund lernte sie schon als Collegestudentin kennen, er war ihr Dozent. Seit diesem Tag begann ihre zutiefst innige Freundschaft. Das Buch läßt offen, ob er auch zugleich ihre große Liebe war, der Eine oder Andere sagte ihr es nach. Vermutlich war es so, war mein Resumee beim Lesen. Nun ist er gegangen, ohne sich zu verabschieden. Was übrig blieb war ein Meer von Tränen. Sie weinte tagelang zurückgezogen in ihrer Wohnung. Sie weinte sich sprichwörtlich blind, sah nur noch verschwommen.
 
Man kann weinen, bis man nichts mehr sieht. Habe ich selber erfahren. Nicht nur beim Verlust geliebter Menschen, sondern auch nach erlittenen Traumata. Die Protagonistin arbeitete u.a.  mit Frauen aus Kambodscha, Kriegsflüchtlinge mit schweren Traumatas. Einige von ihnen verloren ihr Augenlicht ob des vielen Weinens. Medizinisch gesehen war mit ihren Augen alles in Ordnung. Aber schwere Traumata können eine solche Begleiterscheinung hervorrufen. Auch das war mir selber bekannt aus jungen Jahren. Was ich nicht wußte war, dass Wissenschaftler in Untersuchungen festgestellt haben, dass die chemische Substanz von Tränen eine andere war, wenn sie geweint werden wegen seelischem Kummer oder wenn sie geweint werden, um das Auge zu benetzen,  weil sie gereizt sind. Aber eines ist sicher, Weinen zu können ist wichtig. Man fühlt sich besser, wenn man sich ausgeweint hat. Es gehört zum Loslassenprozeß.
 
Doch zurück. Ich schrieb, dass es nicht nur um die Freundschaft zu ihrem Schriftstellerfreund ging, sondern auch um die Freundschaft, die sich langsam entwickelte, zum Hund ihres Freundes, einer Harlekin-Dogge. Denn dieser,  war sein letzter Wunsch,  sollte zu ihr kommen. Sie sollte sich um ihn kümmern. Er hatte ihn selbst überraschend gefunden, ausgesetzt wohl, schon betagt. Wer, so sagte er einmal seiner dritten Ehefrau, wenn nicht sie, soll sich um diesen Hund kümmern.
 
Das kam überraschend für sie. Sie lebte klein, bescheiden. Ihre Wohnung nicht groß. Sie hatte immer Katzen gehabt. Und nun dieser Hund. Ein Riese. In ihrer knapp 45 qm großen Wohnung. Zudem verbot der Vermieter Hundehaltung. Doch es gab da ein Gesetz, auf das sie aufmerksam gemacht wurde. Hält ein Mieter einen Hund drei Monate lang in seiner Wohnung und wird seitens des Vermieters nichts dagegen unternommen, ist das Gewohnheitsrecht entscheidend. Zudem weiter, wird der Hund als Assistentbegleitung für psychisch oder körperlich leidende Menschen eingesetzt, kann das Haltungsverbot des Hundes in einer Wohnung umgangen werden. Auch darum bemüht sich unsere Protagonistin.
 
Und so zieht die Erzählung den Leser hinein in diese wunderbar beginnende Freundschaft zu dieser Harlekin-Dogge, genannt Apollo, der wohl nicht nur wegen des Verlustes ihres Freundes, sondern auch aus seiner Vergangenheit zur Depression neigt. Es beginnt eine Nähe zwischen den Beiden, die einen oft zum Lachen bringt, wenn er sich es z.B. gemütlich auf ihrem Bett breit macht. Denn die Luftmatratze die sie daneben gelegt hat, verschmäht er. Und tatsächlich gewöhnt sie sich dran. Die Beiden werden auch Trost füreinander.
 
Täglich spaziert sie mehrere Male mit ihm durch die Strassen und wird bewundert. Apollo ist eine Attraktion geworden in ihrem Umfeld. Manche haben auch Angst vor ihm. Wer kann es ihnen verdenken. Ein so großes Tier.
 
In meiner Erinnerung stieg das Bild meiner Ausbildungsjahre als Rechtsanwaltsfachangestellte
in mir auf. Mein damaliger Chef, alt und betagt, brachte Tag für Tag seine große Deutsche Dogge mit ins Büro und ich fürchtete mich, obwohl selber Hundeliebhaberin, anfangs sehr vor ihm. Wenn mein Chef mich zum Diktat ins Büro rief, lag er neben mir und beobachtete mich genau. Aber ich begann ihn zu lieben als der Chef verlangte, dass ich ihn zum Gassigehen ausführen sollte.
 
Und sie, unsere Protagonistin begann ihn ebenfalls zu lieben. Wenn sie las, las sie laut, ihm vor, Bei Rilke lächelte er meinte sie und schlief irgendwann ein. Knausgaard nahm er sich vor, zerkaute ihn, hörte dann aber ebenfalls hingebungsvoll zu.
 
Wir erfahren viel über die Eigenarten menschlicher Freundschaftsverhältnisse zu ihren geliebten Hunden.Die schöne Geschichte über die Hundefreundschat Hachiko zu seinem Herrchen wird auch erwähnt. Aber Hachiko war nicht der Rekordhalter in der Treue zu seinem Herrchen, da gibt es noch eine andere Geschichte, die hier erwähnt wird. 
 
Es wird ja auch gesagt, dass Menschen ihren Hunden oft ähnlich sehen. Vielleicht ist das ein bisserl übertrieben, doch wenn ich an meinen Wuschelhund damals in jungen Jahren denke, hatte ich doch den gleichen Wuschelkopf. Ein Lächeln in meinem Gesicht bei der Erinnerung.
 
Richtig gelacht hab ich als sie erzählt, wie sie eimmal einer fremden Frau lauschte, die im aufgeregten  Gespräch mit ihrem Mops war. Sie sagte zu ihm: "Vermutlich ist es mal wieder meine Schuld, oder?" Woraufhin, sie beschwört es, der Hund die Augewn verdrehte.
 
Diese Vorstellung ist so herrlich. Ich habe das Bild tagelang nicht aus meinem Kopf bekommen. Ich bleib dabei, ein Hund ist der beste und treuste Freund den man sich wünschen kann. Und das beweißt auch dieses kleine Büchlein von Nunez.
 
Es ist ein wunderbares Buch über Liebe, Freundschaft, Trauer und Trauerarbeit , Erinnerung und Vergessen. Oft auch mit viel Humor. Gerade Humor brauchen wir Menschen doch auch in schweren Lebenslagen. Wenn ein Mensch wirklichen Humor in sich trägt, so ist das schon eine große Vertrauensbasis für eine wie auch immer beginnende Beziehung. 
 
Aber und das will ich jetzt gar nicht so weit ausholen auch ein sich Hineinvertiefen über das Wesen des Schreibens, der Literatur , denn das war ja für Beide, ihrer und ihres verstorbenen Freundes die ganze Welt. Das Schreiben, Lesen und Unterrichten,. Viele kleine Ausflüge in die literarische Welt beschreibt Nunez in ihrem Büchlein.
 
Schreiben ist für mich oft auch ein Loslassen der Dinge, wie jetzt eben auch diese kleine Empfehlung für das Büchlein von Sigrid Nunez - Der Freund -
 
"Im Buch wird gesagt: Statt über das zu schreiben, was ihr wißt, schreibt über das, was ihr seht. Geh davon aus, dass du nicht viel wissen wirst, ausser du lernst zu sehen" So ist es!
 
Und eines noch: Wie sehr ein Mensch einem Freund war, weiß man erst, wenn man ihn verloren hat!
 
 
 
Sigrid Nunez
Der Freund
Aufbau Verlag, Berlin 2020
220 Seiten
20,00 Euro
 
 
 
 
 
 
 
 
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9. Mai 2024 4 09 /05 /Mai /2024 13:32
Jean-Philippe Toussaint´s Buch - Das Schachbrett - ist ein Lesevergnüpgen für Literaturliebhaber doch sogleich auch eins, das man gern liest, wenn man schachbegeistert ist und sich immer freut, Schach nicht nur zu spielen, sondern auch von Anderen zu lesen, wie sie zum Schachspiel gekommen sind und wie das Spiel sie auf ihrem Lebensweg begleitet hat,
 
All das erfährt man in seinem Buch. Toussaint  erinnert sich an seine Jugend, seine Ängste und Zweifel welchen Weg er wohl beruflich gehen wird und seinen Werdegang als Schriftsteller, auf den er erfolgreich zurückblicken kann und eben auch an den Beginn seiner Schachleidenschaft.
 
Seine Erzählungen beginnen im Jahre 2020 als der Lockdown begann. Er läßt sich aber nicht zum Thema Corona verleiten, groß darüber zu philosophieren oder seine Gedanken dazu mitzuteilen. Ihm wird aber in dieser Zeit bewußt wie fast alle Menschen in dieser Zeit Karriere als private medizinische Berater machen wollen. Auch in seiner Familie halten seine Gäste ellenlange medizinische Erwägungen, Statistiken der aktuellen Entwicklungen der Pandamie,  analysieren und mit eigenen persönlichen Kommentaren und epidemiologischen Betrachtungen bestücken. Er denkt Corona nicht.
 
Er hat einzig die Erkenntnis, dass diese Zeit den Menschen die Möglichkeit gibt die Zukunft auf eine neue Weise zu betrachten. Es sei Jedem selber überlassen ob er diese Zukunft als Gefahr  erlebt oder ob er die Möglichkeit sieht, einen Vorteil daraus zu ziehen, eine Veränderung für sich selber und für das gesamte gesellschaftliche Miteinander.
 
Er  sieht seinen Vorteil darin, sich in seiner Brüsseler Wohnung zurückzuziehen um drei Projekten nachzugehen. Diese sind das Projekt einer Übersetzung der Schachnovelle von Stefan Zweig, was ihm nicht leicht fällt, wegen seiner vorhandenen Deutschkenntnisse. Das zweite Projekt ist ein Essay über das Schreiben an sich und als drittes Projekt der Beginn dieses Buches.
 
Wir lesen in 64 Kapiteln wie die Felder auf dem Schachbrett wunderbare Andekdoten aus seinem Leben immer auch in Verbindung mit dem königlichen Spiel. Gefallen hat mir seine Aussage, dass die Literatur das sicherste Mittel ist, um den Verletzungen der Realität aus dem Weg zu gehen. Bücher lassen einen immer die reale Gegenwart vergessen machen und schaffen Freiraum.
 
Er verweist auf das Schachmatt, dass vom persischen *chāh māt* abstammt und bedeutet * der König ist tot* den er auf seinen Vater auch anwendet, mit dem er als Jugendlicher Stunden am Schachbrett verbracht hat. Stets hat er verloren. Sie eröffneten ihr Spiel beide immer mit dem Königsbauern und der andere antwortete mit e5. Sein schachliches Können als Jugendlicher war noch nicht sehr weit fortgeschritten. Später als er sich intensiver mit der Schachtheorie beschäftigt hatte endete sein letztes Spiel mit seinem Vater fast in einem Sieg. Aber ab da wollte sein Vater nie mehr gegen ihn antreten. Er konnte nicht gegen seinen Sohn verlieren. Und Toussaint mutmasst, dass sein Vater das Schachspiel eigentlich gar nicht liebte, sondern er liebte es zu gewinnen. 
 
Ich glaube, das kommt oft vor, vor allen Dingen bei Hobbyspielern.
 
Sein empfohlenes Standardwerk ist für ihn * Mein System* von Nimzowitsch, in dem dieser das Konzept entwickelt, das den Rahmen des Schachs im strengen Sinne überschreitet und eine Dimension poetischer Utopie entwickelt. Obwohl das Werk in weiten Teilen sehr technisch ankommt habe dieses Buch eine unübersehbare literarische Dimension und man muss kein Großmeister sein,um der spekulativen Finesse von Konzepten etwas abzugewinnen. Auch auf Nabokovs *König Dame Bube verweist er in seinem Buch, dass er immer mal wieder gelesen habe.
 
Er erzählt wie er 2 x dabei war, als Kasparow und Karpow gegeneinander antraten. 1986 flog er eigens nach London um einmal eine Partie einer Schachweltmeisterschaft mit zu erleben. Er erinnert sich an den Auftritt Kasparow in den Räumen des Park Laine Hotels in seinem dunkelgrauen Anzug und Krawatte, breitschultrig, untersetzt und zum Kampf entschlossen stieg er wie ein wildes Tier oder wie ein Jahrmarktsringer auf die Bühne. Er spürte förmlich die agressiven Wellen die von seinem Körper und seinem dunklen Blick ausgingen, als würden sie sich vor ihm in giftigen todbringenden Dämpfen materialisieren und er konnte sich vorstellen, was es bedeutet, einem solchen Individium am Schachbrett gegenüber zu sitzen.
 
Einige Jahre später, genauer 1990, war er wieder dabei als die Beiden in einem ihrer letzten Kämpfe sich gegenüberstanden. Er bezeichnet dieses Match als eines der letzten Schachfeuer ihres über fünf Jahre andauernden legendären Duells.
 
Super spannend ist auch sein Erzählen wie er für einen Film, den er drehte, den Großmeister Jussopow engagierte, der damals im Schachclub Bayern München spielte und der auf seine Anfrage bezüglich des Films nur knapp mit einem *Njet* antwortete, aber dann später doch zusagte. Lustig wie Jussopow dann aber erfuhr, das er selber, Toussaint die Rolle seines Gegners, dem Großmeister Lanskoronskis, in diesem Film übernehmen werde. An seinem Gesicht konnte er ablesen, dass ihm das gar nicht gefiel, gegen ihn, Toussant zu verlieren und wenn auch nur im Film. Jussopow zählte zu dieser Zeit zu den fünf besten Schachspielern der Welt. Auf  Jussopows perpelxes Gesicht konnte er nur antworten. Tut mir leid, ich kann nichts dafür, es steht so im Drehbuch. Herrlich.
 
 Allerdings durfte Jussopow sich eine Partie aussuchen, die im Film gespielt werden sollte. Und dass er, Toussaint, mit schwarz spielen solle. Und Jussopow wählte die beste Partie seines Lebens, die berühmte Unsterbliche. Es war die Partie, die er 1991 in Brüssel gegen Iwantschuk gewonnen hatte. Darüber kann man hören im Schachgeflüster-Podcast: https://www.schachgefluester.de/tigersprung/
 
Übrigens hat Toussaint später in Belin tatscächlich gegen Jussopow eine Blitzpartie gespielt, die remis ausging. Darauf war er natürlich sehr stolz.
 
Eine Anekdote, genauso spannend erzählt, wie die mit Jussopow war seine Begegnung und Freundschaft mit dem französischen Schachgenie Gilles Andrue, den er in der Bibliothek des Centre Pompidou, wo sich tagtäglich Schachspieler trafen, kennenlernte. Ich verrate aber nichts, ihr sollt es ja lesen. Nur soviel, für den der es nicht weiß,  Gilles Andruet wurde später von der Glücksspielmafia ermordet.
 
Intressant fand ich Toussaints Bemerkung über das Schachspiel im Film. Er sagt aus, dass die Schachpartien, die man im Film zu sehen bekommt, in aller Regel unglaubwürdig seien. Die Stellungen auf dem Schachbrett entstammen zumeist entweder der Fantasie oder sie sind schlicht weg einfach absurd. Was der Laie natürlich nicht sehen könnte.
 
Toissaint sagt am Ende des Buches, dass dieses die Dimension eines *kairos* bekommen sollte, was bedeutet ein günstiger Moment. Der Begriff kairos war mir nicht fremd. Kannte es aus meiner langjährigen Beschäftigung mit Glaubensfragen in der katholischen Kirche. Mir hat dieser Ausdruck immer gefallen, da ich oft im Leben wenn Entscheidungen anstanden, auf genau diesen günstigen Moment, dem Kairos, wartete.
 
Dieser günstige Moment war für Toussaint die Covid-19-Pandemie, ohne die er dieses Buch wohl niemals geschrieben hätte. Er woltle weiterhin das Sichtbarwerden des Alters zur Sprache bringen, das ihn selber wie ein aufsteigender Nebel zu umhüllen begann und er wollte dass dieses Buch von ebenso vielen Spieleröffnungen wie Endspielen handelte. Er wollte in diesem Buch von seiner Kindheit, seiner Jugend und Adoleszens, von seinem Verhältnis zum Schach erzählen, von Anbeginn an. Und das in 64 Kapiteln wie die 64 Felder auf dem Schachbrett.
 
Ich finde das ist ihm wunderbar gelungen. Mich hat es Seite um Seite in den Bann gezogen und es ist sicherlich nicht das letzte Mal, dass ich es gelesen habe.
 
Biographien, die ich gerne lese, sind wunderbare Möglichkeiten immer wieder auch auf eigene Erinnerungen zurückzugreifen, sie zu vergleichen mit denen der Schreibenden, wie man selber mit möglichen gleichen Lebensverhältnissen umgegangen ist, was die Schreibenden gelernt haben und wie man sich selber weiter entwickelt hat im Laufe des eigenen Lebens. In diesem Falle war es für mich besonders spannend, weil es eben auch den Bezug zum Schachspiel vorweist, mit dem ich selber erst im fortgeschrittenen Alter begonnen habe und dass mir bis zum heutigen Tage noch immer viel Freude bereitet. Ich hoffe, das wird sich nicht ändern.
 
Viel Vergnügen beim Lesen dieses schönen Buches!
jean-Philippe-Toussaint
Das Schachbrett
Frankfurter Verlagsanstalt
ISBN 9783627003180
Gebunden, 256 Seiten, 24,00 EUR
 
 
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26. Februar 2024 1 26 /02 /Februar /2024 11:04
Dieses Buch macht einfach nur Vergnügen es zu lesen. Keinerlei große Probleme der Welt werden gewälzt, über die nachgedacht werden muss. Außer vielleicht über die Weltfremdheit. Genauer gesagt über den Oblivismus.
 
Denn darum geht es in dieser wunderbaren Geschichte die Johanna Seebauer mit einer unglaublich phantasievollen Sprache erzählt. Ihre Beschreibungen von Personen und Örtlichkeiten haben einen Sog der einen hineinzieht ins Geschehen.
 
Nincshof ein kleines fiktives Dorf am Ende von Österreich. Im Burgenland nahe der ungarischen Grenze. Die Legende besagt, dass es dieses Dort für die Welt lange Zeit nicht gegeben hat. Es war versteckt im hohen Schilf und ihre Häuser standen auf Stelzen auf dem dahinfliessenden Wasser. Erst im 2o. ten Jahrhundert wurde es an das große weite Weltgeschehen gegen den Willen aller Nincsdörfler angeschlossen.  Eine Legende oder Wahrheit? Man wird es erfahren.
 
Die Menschen im Dorfe Nincshof sind aussergewöhnlich, schräg oder skurril, je nachdem wie man es betrachten möchte. Geheiratet wird selten, doch auch wenn, die Männer tragen ausnahmslos alle die Nachnamen ihrer Frauen. Ihr Liebesleben ist sehr freizügig. Kirchlichen Institutionen stehen sie mehr als skeptisch gegenüber und was Wahrheit ist, stellen sie zumeist in Frage. Was ist schon Wahrheit? Es gibt doch viele Wahrheiten.
 
Die Menschen leben so für sich dahin. Der Bürgermeister, der eigentlich gar kein Bürgermeister sein will, aber es trotzdem ist, weil es niemand Anderes werden will.
 
Es ist Sommer und die Luft ist heiß und stickig. Nur die Grillen mit ihrem Gesang durchdringen bisweilen die Schwere der Luft.
 
Erna Rohdiebel beschließt eines Tages in der Nacht in den Swimmingpool ihrer Nachbarn zu steigen. Ein Abenteuer für die fast 80jährige Erna. Und damit begintn die abenteuerliche Geschichte im Dorfe Nincshof.
 
Der Bürgermeister, der eigentlich kein Bürgermeister sein will hat die Nase voll von der Welt. Es reicht ihm. Wieso kann sein kleines Dorf nicht ruhig, still und friedlich ihr ganz eigenes Leben führen? Alles muss man mitmachen, was von ganz oben kommt. Sogar eine Städepartnerschaft muss man haben, wie jetzt jedes kleinste Örtchen sie hat. Nincsdorf also auch. Mit einer belgischen Stadt direkt an der See. In Abständen muss er mit einer Gefolgsschaft dieses Städchen besuchen. Zumeist bleibt er allein, denn Niemand will das. Aber er muss. Und das bekommt ihm jedes Mal nicht. Der Verzehr von Muschelgerichten liegt ihm in den Därmen und macht den Aufenthalt fast unerträglich.
 
Als er wieder einmal von einer Reise zurückkommt, sitzen drei Männer, er, der Bürgermeister, also der ältere, ein junger Mann, vielleicht gerade 20 Jahre alt und ein noch Älterer, den man Sepp-Sepp nennt, und der mindestens schon 200 Jahre alt sein soll abends, es ist schon dunkel, in aller Heimlichkeit am Einser-Kanal.  Auch die Beiden, also der Jüngere und der noch Ältere,  haben die Nase gestrichen voll von der Bevormundung von ganz Oben und dem ständigen wir müssen uns weiterentwickeln, sonst gibt es keinen Fortschritt.
 
So beschließen die Drei sich zu erwehren. Der Jüngere macht sie mit dem Oblivismus bekannt. Weltabgewandtheit. Der Philosophie des Vergessens. Der ältere, also der Bürgermeister und der noch Ältere, also der Sepp-Sepp, sind ganz begeistert von dieser Philosophie. So beschließen sie einen Plan, wie sie Nincsdorf für die Welt da draussen vergessen machen können.
 
Sie lassen sich verrückte Sachen einfallen. Das Abmontieren der Ortsschilder, eine Flut von Jauche neben den Radwegen durch und um das Dorf herum, auf denen am Wochenende die Radler aus der Umgebung und der Großstadt Wien ihre Touren absolvieren und die ganz schnell angewidert fernbleiben. In der örtlichen Bibliothek reißen sie alle Berichte und Fotos des Dorfes aus den historischen Büchern heraus und auch im Internet findet man ganz plötzlich nichts mehr über Nincsdorf.
 
Das muss auch Isa Bachgasser, eine bekannte Filmemacherin von Dokumentationen und ihr italienischer Mann Silvano erfahren. Beide hatten sich entschlossen aus dem Großstadtgewühle von Wien in ein kleines Dorf zu ziehen und haben sich genau dieses Nincshof ausgesucht. Denn bevor alles verschwunden war im Internet, konnte man noch Vieles erfahren über das Dorf.
 
Beide, Isa und Silvano wollen dort einen Neuanfang ihres Lebens starten. Silvano war nach langer Krankheit endlich wieder genesen und hatte jetzt endlich den Mut sich dem zu widmen, von dem er schon träumte, als er noch in Peru einige Jahre lebte und den Zappatisten bei ihrem Freiheitskampf geholfen hat. Dort in Peru begegnete er dem, was ihn dann auch später, als er wieder Zuhause war, nicht loslassen konnte. Es waren die Irrziegen. Eine seltene Ziegenart, die es kaum noch auf der Welt zu finden gab.
 
Von einem italienischen Züchter kaufte er mehrere dieser Irrziegen und wollte dort, in Nincsdorf, einfach nur noch Ziegenwirt sein. Und seine Frau die Isa? Sie war des Filmemachens müde. Wollte sich endlich mal ausruhen.
 
Aber eines Tages joggte sie durch und um das Dorf herum und fand versteckt im Schilf ein Schild * Freiheit für Nincsdorf* in Gedenken an Martha E. Sie stutzte. Was es wohl damit auf sich hatte.
 
Und so geschah es, dass diese beiden Zugezogenen den Oblivisten , die sich Tag für Tag bei Erna Rohdiebel, die jetzt auch dazu gehörte,  trafen um die weiteren Pläne für die Aktion *Nincshof - soll vergessen werden, trafen, einen Strich durch die Rechnung machten.
 
Wie es wohl ausgeht das Ganze. Darauf laßt Euch ein. Denn mehr verrate ich nicht, ausser dass es einfach nur Spaß macht dieses Buch zu lesen. Immer wieder habe ich herzhaft lachen müssen ob der verrückten Beschreibungen des Geschehens und der phantasievollen Wortgewalt mit der Johanna Seebauer ihre Geschichte erzählt und man gar nicht anders kann, als allen Personen in diesem Buch mehr als sympathisch gegenüberzustehen, nein man liebt sie geradezu.
 
 
Und ja, seufz...so eine Weltabgewandtheit gefällt mir doch auch sehr. Denn wie soll man sich all dieser Verrücktheiten, dem Schrecklichen und Unmöglichen erwehren, wenn nicht, dass man einfach mal verschwindet, entweder hinter der eigenen Tür in seiner kleinen Höhle zuhause oder irgendwo hin in ein kleines Dorf, das verschwiegen irgendwo in der Eifel oder sonstwo liegt und das einem ebenfalls dazu verhelfen kann, einfach mal die Welt da draussen in sich drin zu vergessen und sich selber auch vergessen sein lassen will. Denn in so einem kleinen Dorf, jedenfalls bei mir in der Eifel, steht die Welt tatsächlich noch ein wenig still. Hier dringt der Lärm der Welt noch nicht bis in alle Winkel hinein. Hier ist die Wirklichkeit des Alltags noch überschaubar.
 
Also es ist schon eine kleine Einladung auch, die Welt einfach mal draussen zu lassen!
 
Viel Vergnügen
 
Johanna Seebauer
Nincsho
DuMont Verlag
367 Seiten
23 Euro
ISBN 978-3-832-16820-9
 
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16. Februar 2024 5 16 /02 /Februar /2024 12:34
Caroline Wahl hat einen wunderbaren Roman geschrieben, den ich jetzt zu Ende gelesen habe, der allerdings kein leichtes Thema beinhaltet. Dennoch erscheint nicht einen Moment lang beim Lesen das Gefühl von Schwermut ob der Geschichte. Im Gegenteil, sie schreibt den Roman in einer bemerkenswerten Leichtigkeit, die es einem leicht fallen läßt, die Schwere zu ertragen.
 
Zwei Schwestern, Tilda und Ida, leben mit einer Mutter die Alkoholikerin ist. Hinzu kommt die finanzielle Armut, mit denen die Geschwister und ihrer Mutter leben müssen.
 
Die Mutter hat seltene Momente, in denen sie versucht sich aus ihrer Sucht zu lösen, um wieder in eine Normalität zu gelangen. Leider halten diese Momente immer nur kurz an. Dann verfällt sie wieder ihrer Sucht und verwandelt sich in ein Monster, dem es schwer ist, zu entkommen. Vor allen Dingen die kleine Ida, noch in der Grundschule, ist die Leidtragende, denn sie hat noch keine Methode entwickelt, sich den Angriffen, auch verbunden mit körperlicher Gewalt, ihrer Mutter zu erwehren.
 
Die große Schwester Tilda versucht so gut wie möglich für die kleine Ida zu sorgen, sie zu beschützen. Eine schwere Aufgabe für Tilda, die vor ihrem Abiturabschluß steht und danach Mathematik studieren möchte.
 
Tilda geht zur Schule und arbeitet nebenher in einem Supermarkt an der Kasse, um den Lebensunterhalt der dreiköpfigen Familie zu verdienen, denn die Mutter fällt immer wieder aus.
 
Sie verbindet diese Arbeit an der Kasse mit einem Spiel, in dem sie niemals die Kunden vor ihr anschaut, sondern nur zählt, was sie abkassiert:
 
*Hafermilch, Mandelmilch, Cashewnüsse, tiefgefrorene Himbeeren, Hummus, Kölln Haferflocken, Bananen, Dinkelnudeln, Avocados. 30,72 Euro Levis-Shirt ratet sie, schaut dann endlich hoch und als sie den Schriftzug Levis-Shirt sieht, ist das ziemlich cool und vielleicht sogar der Höhepunkt ihres Tages. Es ist zwar eine jüngere Frau, aber das T-Shirt richtig erraten zu habenempfindet sie stark.*
 
Tilda ist eine junge Frrau die es sich zur Aufgabe gemacht hat, in ihrem Alltag mit der kleinen Schwester und der kranken Mutter, die Kontrolle zu behalten. Durch viele Wiederholungen, die es ihr selber leicht machen, die schwere Aufgabe zu bewältigen, versucht sie ein Gleichgewicht zu schaffen, um nicht selber abzustürzen.
 
So gehört das tägliche Schwimmen am Abend, zu dem gelegentlich auch die kleine Schwester Ida mitkommt,  dazu. Vor allen Dingen im  Regen macht es den beiden besonders Spaß. Tilda schwimmt genau 22 Bahnen. Immer. Und die kleine Ida liebt es zu tauchen. Auch Tilda läßt sich immer auf den Grund hinab um das Treiben da über ihr zu beobachten. Wenn sie fertig ist mit ihrem Programm setzt sie sich auf die Bank zu Ursula, einer älteren Rentnerin, um noch ein wenig mit ihr zu plauschen.
 
Dort im Schwimmbad begegnet sie auch Viktor, dem Bruder von Ivan, mit dem sie und ihre Freundin Marlene oft abgehangen haben. Ivan, seine Schwester und seine Eltern leben nicht mehr. Sie sind bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Viktor ist zurückgekommen aus Hamburg, wo er als freiberuflicher Programmierer arbeitet, um den Haushalt seiner Familie aufzulösen. Die Trauerarbeit ist schwer und auch er scheint mit dem täglichen Schwimmen den Kopf frei bekommen zu wollen, wie auch Tilda.
 
Es beginnt ganz zart etwas zwischen ihnen, aber noch lange weiß man nicht, wie das ausgehen wird zwischen ihnen. Es ist aber, wie auch der Vorschlag ihres späteren Dozenten an der Uni, der ihr vorschlägt sich für eine Promotionsstelle in Berlin zu bewerben, ein Hoffnungsschimmer für die Zukunft. Ein Neuanfang? Herauszukommen aus dem Kreislauf  des schweren Alltags. 
 
Aber wie soll das gehen fragt sie sich immer wieder? Sie kann doch ihre kleine Schwester Ida nicht bei der Mutter allein lassen. Sie muss sie stärken, damit sie sich selber schützen kann, wie sie sich selber ebenfalls als kleines Kind und heranwachsende Jugendliche zu schützen gewußt hat.
 
Wunderbare Dialoge zwischen ihr und ihrer Schwester Ida zeigen, wie die Beiden miteinander umgehen. Wenn man sie liest, befällt einen das Gefühl man stehe selber als dritte Person neben den Beiden.
 
Das Schwimmen und das Lesen, denn das ist das Andere, was sie versucht der Schwester beizubringen, würden ihr helfen. Da ist sie ganz sicher. Denn es hat auch ihr geholfen über ie Dunkelheit in ihrem Leben. 
 
So besorgt sie Ida einen Leseausweis für die örtliche Bibliothek. Ida, die zwar auch schon eine eigene Strategie entwickelt hat, sie, die künsterlisch sehr kreativ ist und viel mit Malen verarbeitet, greift das Lesen auf. Fürs tägliche Schwimmen braucht sie noch etwas Zeit.
 
Mehr möchte ich nicht verraten. Der Roman über die beiden Geschwisterkinder zeigt, wie wichtig es ist, Verantwortung zu übernehmen. Gerade dann wenn es schwere Lebenssituationen zu bewältigen gibt. Gerade das Übernehmen von Verantwortung kann dann heranwachsenden Jugendlichen dabei helfen zu stabilen Persönlichkeiten zu werden. Und es zeigt auch wie wichtig es ist, sich Dingen zu widmen, die einem dabei helfen können, schwere Traumata zu verarbeiten. In diesem Falle sind es das Schwimmen, das Lesen und die künsterlische Aktivität der kleinen Ida.
 
Ich bin da ganz bei den Beiden gewesen. Auch selber habe ich die Erfahrung schon von Kind an gemacht, dass das Lesen, also das Verschwinden in andere Welten, helfen kann, Hoffnung gibt. Es hat mir immer Mut gemacht, zu sehen, wie die Protagonisten in Büchern es geschafft haben, Schweres auszuhalten und die Hoffnung zu behalten und ich oft gedacht habe, wenn man das aushalten und bewältigen kann, dann kannst du das auch, was dir selber widerfährt.
 
Und am Ende zeigt es auch, wie wichtig es ist in unserer Gesellschaft Verantwortung zu übernehmen, wo es nötig ist. Denn das ist sicher eines der größten Probleme in unserer Zeit, dass die Menschen verlernt haben Verantwortung zu übernehmen und oft versuchen, auf Institutionen zu verweisen. Aber Menschen brauchen Menschen!
 
Ein großartiger Roman, der wie ich finde, auch für Jugendliche eine gute Leseempfehlung ist.
 
 
Caroline Wahl
22 Bahnen
Dumont Verlag
ISBN: 9783832168032
22 Euro
 
 
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16. Januar 2024 2 16 /01 /Januar /2024 11:37
Der Norweger Jon Fosse bekam 2023 den Literaturnobelpreis. Davon las man. Gelesen hatte ich bisher noch nie etwas von ihm. Alles zu Fosse kann hier: https://de.wikipedia.org/wiki/Jon_Fosse
nachgelesen werden.
 
Daß er jedoch religiös geprägt sein muss erschließt sich nach einiger Zeit beim Lesen seines Romans.
 
Ein Leuchten so heißt seine Erzählung, der flott gelesen werden kann, weil er gerade mal 80 Seiten zählt. Schnell gelesen aber dafür nehmen die Zeilen, diese Geschichte,  einen noch für lange Zeit gefangen.
 
Ein wunderbare Einladung zum Sinnieren, so schreibt der Norddeutsche Rundfunk.
 
Das trifft es absolut, denn die Geschichte die erzählt wird ist offen für viele Möglichkeiten ihrer Deutung. Denn darüber denkt und denkt man nach. Was erlebt dieser Mann in der Geschichte tatsächlich? Was will uns Fosse mit dieser Geschichte sagen?
 
Ist es eine Phantasierei des Protagonisten oder ist es eine Realität, ein Erleben?
 
Der Mann über den er schreibt befindet sich in einer Lebenssituation von Langeweile. Irgendwie geht es wohl nicht weiter. An dem Gefühl von Langeweile kommt der Mensch zumeist an, wenn entweder alles getan wurde und man keinen neuen Aufgaben oder Wege findet, um das Leben fortzusetzen oder wenn man möglicherweise einfach genug hat von all dem was bisher gewesen ist, ein gewisser Überdruß sich einschleicht.
 
Mit diesem Lebensgefühl der Langeweile, die ihn gefesselt hat, setzt er sich in sein Auto und fährt einfach drauflos. Er richtet sich nach dem Strassenverlauf. Mal biegt er links, mal rechts ab weiter und weiter, bis es am Ende nicht mehr weitergeht und er an einem Waldweg ankommt, wo sich sein Auto festsetzt. Kein Vor- und kein Zurück mehr. Nur noch Wald. Norwegens Wälder sind tief und schwarz.
 
Er ist ratlos. Weiß nicht, wie es weitergehen soll. Waren da nicht vorher irgendwo Häuser? Sollte er zu Fuß zurückgehen um eines dieser Häuser zu suchen und um Hilfe zu bitten? Er versinkt ins Grübeln.
 
Ihm ist kalt. Es beginnt zu schneien und die Dunkelheit der Nacht ist nicht mehr fern. Er stellt die Heizung an. Wie geht es weiter?  Er verspürt Angst. Was ist, wenn es hier für ihn nicht mehr weitergeht? Wird man ihn suchen, ihn finden? Er ist ein einsamer Mann, lebt allein. Wer soll da wohl an ihn denken, ihn suchen und finden.  Noch mehr Angst.
 
Nach einigen Seiten des Lesens dieser Geschichte dachte ich, dass es Realität ist, was der Mann erlebt. Und hatte schon ein Urteil parat, schon ein wenig dumm was er da getan hat und auch weiter tun wird. Nämlich die Wärme des Autos verlassen und in den tiefen Wald gehen. Was will er denn da?  Bei Einbruch der Dunkelheit. In den tiefen Wald. Wo das Unglück, dass ihn ereilte, aus Langeweile, seinen weiteren Verlauf nehmen wird. Absolut unsinnig.
 
Aber nach einiger Zeit sieht er etwas. Ein Leuchten. Mitten in der schwarzen Dunkelheit des Waldes und der Nacht. Er sieht es und rätselt. Ein Mensch? Oder einfach nur ein Licht dessen Konturen denen eines Menschen ähnelt? Er geht auf diese Erscheinung zu.
 
Er wird noch zwei wichtige Erscheinungen treffen. Seine Eltern mitten in diesem Wald. Zwischen dem Licht, dem Leuchten der Erscheinung und seinen Eltern wird es eine Kommunikation geben, eine stille jedoch überwiegend. Mehr verrate ich nicht.
 
Wie schon geschrieben, es gibt viele Möglichkeiten der Deutung dieser Erzählung. Sie läßt einen nicht mehr los, unglaublich wie sie einen gefangen nimmt.
 
Für mich war es ganz klar, was sie mir erzählte. Die Geschichte von Sterben eines Mannes, eines Menschen.
 
Angekommen an seinem Ende des Lebens kurz vor dem Tod. Denn ich erinnerte mich selber an das Damals, als bei dem schweren Autounfall, in dem ich verwickelt war, meine zwei Freunde sofort starben und ich selber in tiefe Bewusstlosigkeit fiel, dass ich auch ein *Leuchten, ein Licht sah und auch meine Mutter*, ja ich erinnere mich, dass ich nach ihr rief. Ob laut oder nur in meinen Gedanken, das kann ich nicht mehr sagen.
 
Und ich erinnere mich an all die letzten Tage meiner mir nahestenden Menschen, an deren Bett ich saß, deren Hand ich hielt, bei ihnen war, sie begleitete auf ihren letzten Lebensminuten, auf dem letzten Weg. Und beobachtete wie sich da in ihrem Geiste, in ihrem Kopf, etwas abspielte. Wie sie sahen, auf welchem Weg sie sich befanden und was dort geschah. Nur hin- und wieder ein Seufzen, manchmal sogar nochmal ein Wort oder ein Augenöffnen, welch all das mir zeigte, sie erlebten da Etwas auf ihrem letzten Weg hinüber.
 
Das hat mich getröstet und schenkt mir Zuversicht und Hoffnung, wenn ich einmal selber an dieser Stelle mich befinde des Hinübergehens. Dass da etwas zu sehen ist, mich in meiner Angst, die ja immer wieder aufkeimt, beruhigt und mir sagt, alles ist gut und mich das Licht, dass mich so wärmt wie nichts mich jemals in dieser Welt gewärmt hat, mitnimmt, hinüber. Wohin? Ich weiß es nicht. Aber alles wird gut sein.
 
Aber wie gesagt, das ist das Bild für mich ganz persönlich, dass ich aus dieser Geschichte herausgelesen habe.
 
Es kann auch eine ganz andere, einfachere haben. Ein Bild für das Leben selbst. Vom Leben, in dem man irgendwann nicht mehr weiter weiß und darauf wartet, dass Irgendwas passiert, einem wieder auf die richtige Bahn lenkt.
 
Oder ein Bild vom Leben eines Menschen der das Leben überdrüssig geworden ist. Dass all das was er getan hat, was war und ist und noch kommen sollte, ihn ganz einfach nur noch langweilt und er vielleicht sogar Todessehnsucht bekommt.
 
Sicher gibt es noch viele andere Möglichkeiten der Deutung. Macht Euch Eure eigenen.
 
Ich selber bin überaus gespannt, was mir die Menschen, mit denen ich in meinem Literaturkreis das Buch gemeinsam gelesen habe, von ihrem Erleben beim Lesen dieses Buches erzählen werden. Darauf bin ich schon genauso gespannt, wie ich war beim Lesen des Buches.
 
Jon Fosse
Ein Leuchten
80 Seiten
Rowohlt Verlag
ISBN: 978-3-498-00399-9
22 Euro
 
 
 
 
 
 
 
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1. Januar 2024 1 01 /01 /Januar /2024 10:46

 

 

Unter meinem Gabentich lagen viele Bücher, auch das neue Buch von Bernhard Schlink, wohl den meisten Lesern bekannt durch seinen Roman *Der Vorleser*, das im übrigen auch eine sehr schöne Literaturverfilmung geworden ist. Über Schlink brauch ich nicht viel zu erzählen, das kann man alles hier https://de.wikipedia.org/wiki/Bernhard_Schlink nachlesen.

Das späte Leben ist ein Buch über das Sterben. Der Tod und die Liebe, beides wohl die Themen, denen wir in der Literatur am häufigsten begegnen. Nicht alle, die ich gelesen habe,  berührten mich so  wie dieses Buch von ihm.

Wenn man über den Tod nachdenkt und über ihn schreibt, ist es doch auch so, dass man nicht umhin kommt, über das Leben nachzudenken. Das Leben das man hatte und dass was einem vielleicht davon noch übrig bleibt. Gerade wenn man älter und älter wird und man nicht weiß, wieviel Zeit einem noch bleibt.

Grundsätzlich ist es ja so, dass man es eigentlich nie weiß, egal wie alt man ist, doch in jungen Jahren voller Lebensplanungen und Aktivitäten mag man darüber nicht nachdenken, jedenfalls Wenige tun das, we ich im Laufe meines Lebens in Gesprächen erfahren durfte.  Für mich selber, wie ich schon öfter erwähnt habe, ist das Nachdenken über den Tod nichts Neues jetzt im Älterwerden, da ich selber schon früh mit der Bedrohung des Todes Berühung hatte, sei es das eigene Leben oder eben auch dem Verlieren von geliebten Menschen, die ich begleiten durfte.

Der 76 jährige Martin Brehm ist so ein Mensch der trotz seines Alters noch voll im Leben steht. Er hat eine über 30 Jahre jüngere Ehefrau, Ulla, die Malerin ist,  mit der er einen kleinen Sohn,  David, der kurz vor der Einschulung steht, hat, die er Beide über alle Maßen liebt. Und da war auch seine Arbeit als Universitätsprofessor für Rechtsgeschichte, die jetzt hinter ihm liegt und seine Tätigkeiten in diesem Bereich nicht aufgehört haben, nachdem er emeretiert ist. Er ist immer noch für Vorträge ein gefragter Mann.

Doch dann ganz plötzlich tritt das ein, wovor sich der eine oder andere vielleicht immer mal fürchtet. Martin bekommt bei einer Routineuntersuchung von seinem Arzt die Diagnose Bauchspeicheldrüsenkrebs. Lebenserwartung vielleicht 12 Wochen. Sein Hausarzt ist keiner, der ihm falsche Hoffnungen macht. Unheilbar, der Krankheitsverlauf langsam voranschreitend mit einem schließlichen Ende, deren letzte Wochen schmerzhaft sein werden.

Martin scheint gefasst zu sein. 76jährig scheint er alt genug zu sein, um dem Tod zu begegnen. Dieses Gefasstsein schwankt aber immer wieder. Sein Alltag, die Wochen, die ihm verbleiben, wird geprägt sein einerseits von dem wie wird das Sterben sein und wie wird das Leben seiner Beiden, die ihn verlieren werden, weitergehen. Er kann sich nicht vorstellen, einfach nicht mehr da zu sein um sie zu begleiten.

Manch einer wird sich fragen, wieso kann man drüber nachdenken, wie das Leben ohne ihn selber weitergeht, doch mir sind solche Gedanken auch nicht fremd. Denn des öfteren stell ich es mir auch vor, das alles weitergeht, ohne mich, dass ich nicht mehr dabei sein kann und Vieles noch miterleben darf. Diesen Schmerz loszulassen, der schon da ist, obwohl man ja noch lebt, ist eine riesige Aufgabe. Loslassen.

Martin überlegt lange, wie er seiner Frau und seinem Sohn, vor allem ihm, erzählen kann, was mit ihm geschehen wird, dass er und wie er sterben wird. Wie sagt man seinen Kindern, dass man nicht mehr lange zu leben hat. Aber er findet einen Weg.

Er findet auch einen Weg wie er diese letzten Wochen seines Lebens verbringen möchte. Nicht in Rührseligem - was ich schon immer noch mal tun wollte - , sondern einfach weiter den Alltag leben, mit all den kleinen Dingen, die er erfordert und die ihm in seinen Lebensjahren bisher nicht nahe waren, die er einfach so nebenbei noch erledigt hatte. Jetzt ist das alles anders. Es wird intensiver, die kleinsten Dinge werden ihm, dem immer müde werdenden Mann, groß  sein. Er wird seinen Sohn jeden Morgen zum Kindergarten bringen, einkaufen, kochen, den Garten bearbeiten und ein paar kleine Wünsche äußern, die er zusammen mit ihm und seiner Frau noch tun möchte. Nichts großes, ein Picknick, eine Fahrt mit dem Riesenrad und am Ende ein Aufenthalt am Meer. 

Und er wird einen Brief an seinen Sohn schreiben. Seine Frau riet ihm dazu, etwas dem Sohn noch mitzugeben, damit er sich im Größerwerden an ihn erinnern kann.  Aufgrund eines Filmes den sie mal sah, dachte sie an ein Video, dass er filmen sollte, um dem Sohn etwas zu sagen. Er entscheidet sich aber für einen Brief, in dem er alle Fragen, denen er sich selber stellt über das Leben, den Tod und die Liebe, was ist Gerechtigkeit und wieviel Wahrheit verträgt das Leben.

Er bereut auch nicht, hätte er doch früher schon intensiver mit weniger Arbeit und mehr Zeit für die wirklich wichtigen Dinge verbracht. Alle würden ja heute von der Work-Life-Balance reden. Alles Quatsch sagt er sich.

Er sagt vielmehr:

"Arbeit ist ein Teil des Lebens. Mal gehört unsere ganze Kraft ihr, mal der Familie, mal stehen Chor oder Orchester und mal der Wahlkampf an erster Stelle. Es gibt keine Balance. Wir tanzen im Leben immer auf vielen Hochzeiten." So schreibt er seinem Sohn in seinem Brief.

So ist es ja auch. Die Dinge, die wir tun, erfordern immer unterschiedliche Kräfte und Zeiten. Man kann etwas mit Gewichtigkeitnicht  nur halb tun, um damit das Andere ebenfalls halb tun zu können.

Eines Abends, als er mit seinem Sohn zusammensaß, der nun wußte, dass der Vater sterben wird und er plötzlich weinen musste, sagt Martin ihm:

"David, David...und wenn ich sterbe und in den Himmel gehe, kommst du mit bis an die Tür, wir verabschieden uns, wie wir uns am Kindergarten verabschieden, und ich gehe rein, und wenn du viele, viele Jahre auch reingehst, begrüße ich dich. Es ist eine Tür wie keine andere, du siehst sie nur, wenn sie für dich aufgemacht wird und du reingehst. Wir verabschieden uns du bleibst zurück, ich gehe um die Ecke und finde die Tür."

Ein schönes Bild fand ich!

Das Büchlein umfaßt knappe 24o Seiten, doch in ihm ist eine Fülle großer Fragen und Erkenntnisse zu finden, die den Leser unaufdringlich diese seinem eigenen Leben stellt. 

" Der Tod ist nicht gerecht. Aber was ist schon gerecht - nicht Gott, nicht die Liebe, nicht die Arbeit, nichts, wovon ich Dir geschrieben habe. Ausser der Gerechtigkeit, die wir Menschen in die Welt bringen. Vielleicht ist immerhin der selbstgewählte Tod gerecht. Aber das Leben dessen, der den Tod wählt, hat darum auch nicht seine Erfüllung gefunden. Etwas Besseres als den Tod finden wir überall, so heißt es im Märchen der Gebrüder Grimm von den Bremer Stadtmusikanten."

Mit diesen Worten endet der Brief an seinen Sohn!

12 Wochen sollten es vielleicht noch sein. Begleiten werden wir Martin genau 1o Wochen, die mich und sicher auch jeden Leser bewegen werden, ohne von Sentimentalität oder Rührseligkeit gefangen zu werden. Denn nichts ist realistischer als der Tod und nicht anders kann diesem entgegengetreten werden.

Eine gute Lesezeit wünsche ich allen bei diesem Büchlein!

bernhard Schlink

Das späte Leben

Diogenes-Verlag

ISBN: 13-978-3257072716

26,00 Euro

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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4. Juni 2023 7 04 /06 /Juni /2023 12:54
T.C. Boyle einer meiner US-amerikanischen Lieblingsautoren von so wunderbaren Büchern wie Wassermusik, Worlds End, Drop City  und vielen mehr, die ich alle gelesen habe, hat wieder ein kleines, für mich jedenfalls, Meisterwerk vollbracht. Seine Vita kann bei wiki nachgelesen werden, daher laß ich das hier aus.
 
Blue Sky, sein neuer Roman ist ein humoriges aber auch düsteres Werk einer Familiengeschichte in den USA.  Die Handlung spielt genauer gesagt in Florida und Kalifornien, den beiden Staaten im Südosten und im Westen der USA.
 
In all seinen Büchern geht es Boyle immer um die Veränderungen in unserer Welt hervorgerufen durch Umweltzerstörungen, Kriege und Ausbeutung, dem Sterben der Arten und die durch all dies hervorgerufenen Zukunftängste der Menschen.
 
Und so ist es auch wieder in seinem neuen Roman, der,  obwohl er auch zum Teil sehr komisch und humorig anmutet, kein Wohlfühlen auslöst. Also es ist kein Buch, dass einen nicht ohne aufgerüttelt, wenn man das nicht sowieso schon ist, und nachdenklich zurückläßt, wenn man es am Ende beiseite legt. Denn Boyle sagt uns nichts anderes, als dass der Mensch mit seiner Gier und seinem Fotschrittsgebahren diese Welt, in der wir noch leben, zerstört hat und all die Dinge, die wir jetzt betreiben, um die völlige Apokalypse aufzuhalten im Sande verlaufen wird.  Der Mensch hat sozusagen ausgeschissen, wenn ich das so nennen darf. Er kann sich noch  hinter Ungläubigkeit, Verschwörungstheorien oder einfach besserwisserisch hinter Möglichkeiten, die selbstverständlich für alles eine Lösung bieten verstecken, doch es wird nix nutzen. Wir die wir jetzt lesen,  werden das nicht mehr erleben, aber was wir jetzt schon sehen, reicht ja aus um zu verstehen und sich auszumalen. Man kann es auch zusammenfassend sagen...Die Natur schlägt zurrück.
 
Auch die Mitglieder der Familie von der Boyle erzählt, versucht auf ganz eigene Weise dem ganzen Dilemma noch etwas entgegen zu setzen und ihrem Leben noch einen Sinn zu geben.
 
Ottilie und Frank haben 2 Kinder, Cat und Cooper. Frank ist Arzt und Ottilie, die jetzt in Rente ist, hat bis zu dieser Rentenzeit bei ihrem Mann gearbeitet. Frank noch in seiner Arbeit aufgehend, sieht in seiner Praxis täglich die Auswirkungen der mehr und mehr zunehmenden Naturkatastrophen an den Krankheitsbildern der Patienten. Ottilie, die jetzt Zeit hat, möchte etwas ändern. Zum Beispiel auf Fleisch verzichten, was ihr schon von ihrem Sohn in seiner Pubertät immer wieder angeraten wird.
 
 Cooper, der Sohn hat schon früh erkannt, dass die Welt am Arsch ist und ist einerseits hoffnungslos, andererseits, schon in der Jugend als Bug Boy betitelt von seinen Mitschülern und Freunden, war er schon früh angezogen vom Insektenleben, sammelte, begutachtete und studierte sie. Er wird Wissenschaftler, spezialisiert auf Lepidopter, den Schmetterlingen. Zusammen mit seiner Freundin, die wiederum spezialisiert ist auf Zecken, unternehmen sie einen Ausflug. Sie, um die Zeckenpopulation weiter zu beobachten, er seine Schmetterlinge. Und ausgerechnet ihn trifft es, dass er von einer Zecke angefallen ist. Ob das gut ausgeht? Verrate natürlich nichts.
 
Cat die Tochter des Hauses verläßt Kalifornien, das mehr und mehr unter Hitzewellen leidet und Mißernten in Folge die Menschen einschränken, die Regale in den Supermärkten werden leerer und zieht nach Florida, wo Todd ihr zukünftiger Ehemann ein Haus direkt am Strand von der Tante geerbet hat.
 
Sie versuchen mit den dortigen Katastrophen wie Überflutungen, Termitenplagen und fortschreitender Unbewohnbarkeit der Standhäuser umzugehen. Todd jedoch ist viel unterwegs. Er ist Vertreter für Alkoholgetränke. Cat fühlt sich einsam in diesen Zeiten, ohne die Familie, keinen Job und sie versucht ihrem Leben einen Sinn zu geben. Sie will Influencerin werden, eine ganz besondere um diese innere Leere zu füllen.  Eines Tages steht sie vor einer Tierhandlung, die im Fenster eine Python ausgestellt hat. Sie ist fasziniert von der Schönheit der Schlange und entscheidet sich von jetzt auf gleich für den Kauf eines solchen Tiers. Genau das ist es, was sie zu einer besonderen Influencerin machen wird. Sie, die Schlange immer dabei, um ihren Körper gelegt, wird sie Tag für Tag tolle Bilder und Erkenntnisse über ein Schlangenleben posten. Sie malt sich schon die Follower aus. Eine Katasthrophe bahnt sich an. Wird nicht verraten.
 
Ottilie derweil, wie schon zuvor angemerkt, widmet sich ihrem neuen Hobby. Kochen ohne Fleisch um damit etwas im Kampf gegen die Umweltzerstörung entgegenzusetzen. Sie bestellt eine Brutmaschine für ihre eigene Grillenzucht, denn Grillen und andere Insekten sind jetzt der Ersatz für Fleisch, aber auch in Laboren gezüchtetes Fleisch steht immer mehr auf dem Speiseplan. Sie fühlt sich umweltbewußt, ein gutes Gefühl. Ob es anhält? oder ob all das noch irgendwas nutzt? Verrate nix.
 
So schreibt Boyle hier über eine ganz normale Familie, ganz normale Menschen, die allesamt versuchen gegen all das, was mehr und mehr passiert anzugehen, dem etwas entgegenzusetzen. Doch auch ihr eigenes kleines Leben wird von ganz eigenen Katastrophen heimgesucht. Und man kann nicht umhin, sich reinziehen zu lassen in diese kleinen Leben dieser Menschen mit ihren ganz unterschiedlichen Charakteren, das voller Absurditäten und Widersprüchlichkeiten ist.
 
Am Ende des Buches weiß man wenn man  hinausschaut in unsere Welt, es hat schon lange begonnen, aber wir wollten es nicht wissen und haben den Mahnern nicht vertraut und die Wenigen, die es taten und tun, können zwar ihre eigenen kleinen Gegenschritte praktizieren, doch es wird nichts nutzen. In diesem Jahr habe ich zwei Enkelkinder bekommen. Die Freude in unserer kleinen Familie ist riesig. Was wird diese Generation erwarten? So ist die Freude in mir doch auch die Sorge um all das, was die Zukunft meinen Kindern und Enkelkindern bringen wird. Denn meine Augen sind nicht blind und nichts ist mir scheißegal.
 
Wir klammern uns an die Hoffnung.
 
In einer Pressekonferenz sagte Boyle: " Wir werden überleben, aber wir können bereits die Verwüstungen sehen, die der Klimawandel unseren Gesellschaften gebracht hat“.Und wir können uns auf den Zusammenbruch unserer Gesellschaften freuen. Wir erleben einen Aufstieg des Faschismus in Amerika und Europa. Gangs werden herrschen. Die Hoffnung wird sterben.“
 
Viel Vergnügen!
 
T.C. Boyle
Blue Skies

Hanser Verlag

ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3446276895

28,00 Euro

 

 

 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
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25. April 2023 2 25 /04 /April /2023 14:56

Der schwedische Autor Mikael Niemi hat einen wundervollen Roman über das Erwachsenwerden in der Einöde des an der Grenze zu Finnland liegenden Dorfes Vittula geschrieben. Habe mich köstlich amüsiert. Und fast hätte der Ich-Erzähler des Buches die Geschichte gar nicht erzählen können, denn er wäre fast bei der Besteigung des 6515 m hoch gelegenen Thorong-La-Pass im Annapurnamassiv Nepal zu Tode gekommen. Nach langer Qual dort oben angekommen, glücklick, dass er es geschafft hat,  genießt er diese unfassbare Schönheit des Rundum.

Konnte das sehr gut nachempfinden, denn auch ich war schon auf einem solchen Pass, dem Taglang-La-Pass, allerdings nur in Höhe 5.360 m Höhe und weiß wie einem nicht nur der Schwindel der Höhe erreicht, sondern auch der Enthusiasmus angesichts der Aussicht. Und so küsst er im großen Aufschwall seiner Gefühle die dort angebracht Metallplatte mit den eingravierten tibetanischen Buchstaben. Alles in Ordnung also, doch von jetzt auf gleich frieren seine Lippen an der Metallplatte fest. Allein ist er dort oben. Es schien ihm, als wäre sein letztes Stündlein gekommen. Was soll er machen.

Auf Glück folgt Unheil, manchmal, andererseits umgekehrt auf Unheil gelegentlich auch Glück. In diesem seinem Fall hofft er auf eine rettende Idee, die ihm tatsächlich auch einfällt. Mit aller Kraft fischt er seinen Trinkbecher aus seinem Rucksack, pinkelt einen warmen Strahl hinein und giesst sich den warmen Urinstrahl über den Mund. Denn daran erinnerte er sich, so hat ihn seine Mutter als kleiner Bub mal von einem Brückengeländer losgeeist. Man kann auch sagen, er hat sich das Leben freigepinkelt. Schon allein diese Episode ist so was von herrlich und ich habe das Bild aus meinem Kopf beim nächtlichen Anfangslesen nicht aus dem Kopf bekommen und konnte nicht aufhören vor mich hin zu lachen. Ich begann das Buch schon jetzt zu lieben.

Die Sprache ist zum Teil sehr heftig, aber niemals abstossend. Und gerettet nun erzählt der Ich-Erzähler seine Geschichte auf 304 Seiten über das kleine Völkchen in Vittula, dem Erwachsenwerden mit all den Schwierigkeiten in der Pubertät  und vor allen Dingen über die Liebe zum Rock´n Roll und dessen Beeinflussung, die selbst die Jugend in den hintersten Orten dieser Welt erreicht hat.

Die Geschichte des Ortes mutet zum Teil etwas düster und finster an, doch macht es nie Unbehagen, sondern übt eher eine gewisse Faszination aus über diesen Ort, der so ganz anders ist als man sich Schönheit vorstellen kann. Denn gerade diese Düsterheit, diese Wildheit des Ortes, nimmt den Leser gefangen. Mich jedenfalls.

Das Buch erzählt von Menschen weitab vom Weltgeschehen, die noch in ihrer eigenen kleinen  zurechgemachten Welt leben, wo genau unterschieden wird was Männerarbeit und was Frauenarbeit ist. Wo man noch überlegen muss, ob eine Tasse spülen nun zur Sache des Mannes gehört oder ob es Weiberarbeit ist. Männer dürfen nicht *knapsu* (was weiblich bedeutet) wirken, auf gar keinen Fall. Männer fällen Holz, gehen auf Elchjagd, bearbeiten Baumstämme und verprügeln sich auf den dörflichen Tanzfesten. Knapsu sind die Mädchen und Frauen, sie müssen Gardinen aufhängen, mit dem Strickzeug am Ofen sitzen oder weben, Kühe melken oder Blumen gießen und andere Tätigkeiten des Haushalts verrichten.  Wilde animalische Triebe gehören zum Alltag und werden auch ausgelebt ohne zu hinterfragen. Eine gewaltige Bildsprache bedient sich Niemi in seiner Erzählung.

So hat mich z.B. die kleine Episode, die erzählt wird, total gefesselt. Er, der Ich-Erzähler hatte sich einmal in einem Heizungskeller eingesperrt aus Angst vor dem Hausmeister. 40 Tage hätte er dort verweilt, ohne zu essen und zu trinken. Hier hab ich ein wenig die Stirn in Falten gelegt, denn, ohne essen klar, aber ohne trinken? Na gut, habs einfach so stehen gelassen. Mir gefiel das Bild. Ich konnte mich hineindenken in ihn. Denn auch ich hatte in der Hausmeisterwohnung meiner Eltern abseits von den eigentlichen Wohnräumen ein kleines Zimmer hinter dem Heizungskeller. Und wenn es meinem Vater beliebte, weil ich scheinbar wieder etwas Falsches gesagt hatte, sperrte er mich dort ein. Natürlich bekam ich zu essen und zu trinken, aber manchmal dauerte der Stubenarrest. Und jedesmal hatte ich von mir selber den Eindruck, als wenn gerade diese Erlebnisse mich zutiefst verändert und entwickeln haben lassen. Da war ja nix, nur ich, meine Musik und meine Bücher und den Ausblick nach oben durchs vergitterte Fenster.

Und so beschreibt auch Niemi diese Einsamkeit als eine Veränderung seiner Selbst, er hatte den Eindruck, als er wieder herauskam, nun erwachsen geworden zu sein. Und es ist ja nicht nur die Einsamkeit dieser Zeit des Eingesperrtseins, sondern die Einsamkeit durchzieht ja die ganze Zeit des Erwachsenwerdens, gerade in der Pubertät, in denen so Vieles geschieht was man nicht begreift, was einen verunsichert und man sich fragt, wozu das alles, wer bin ich, woher komm ich, warum das alles und wie gehe ich meinen Weg.

Niemi erzählt auch über seine Freundschaft zu Niila, dem Jungen aus einem streng religiösen Elternhaus, in dem niemals gesprochen wurde. Eine Freundschaft zweier Jungen, die unterschiedlich gar nicht sein konnten, die aber durch diese Verbundenheit die Kraft fanden durch ihre Entwicklungsphasen zu gehen, ohne beschadet zu werden und die eine gemeinsame Liebe verband, nämlich die, zum Rock´n Roll.  Dieser Rock´n Roll beeinflusste sie in ihrem Denken und Fühlen von genau dem ersten Moment an, in dem sie das erste Gitarrensolo hörten und keinen anderen Wunsch mehr hegten, als selber einmal auf der Bühne zu stehen und mit Hüft- und Beinbewegungen und wie Elvis Presley einst die Herzen der Mädchen zu erobern. Der Virus Rock´n Roll erwischte sie beim Anhören einer Schallplatte, die sie durch die Tundra erreicht, von den Beatles, den Pilzköpfen, wie sie damals bezeichnet wurden. Musik von einem anderen Stern so dachten sie und gründeten dann eben genau eine solche Band.

Von den Erwachsenen wurde das jedoch, wie man sich denken kann, nicht gern gesehen. Die Erwachsenen im Dorf bezeichneten diese Musik als *knapsu*. Schon das Singen an sich galt für sie als unmännlich. Singen konnte man höchstens, wenn man betrunken war. Und ganz besonders *knapsu* war es, wenn man denn dann auch noch in englisch sang. Eine Sprache mit viel zu wenig Kauwiderstand für die harte finnische Aussprache und so nuschelig, dass eigentlich nur Mädchen in dieser Sprache eine gute Note bekommen konnten. Sie bezeichneten die englische Sprache als schneckenhaftes Rotwelsch, dass lallend und etwas feucht daher kam und von Schlamm tretenden Küstenbewohnern erfunden, die in ihrem ganzen Leben nie kämpfen musste, die weder gehungert noch gefroren hätten. Last but not least eine Sprache für faule Leute, Grasfresser, Kissenfurzer ohne eigene Kraft, so daß die Zunge wie eine abgeschnitte Vorhaut im Mund herumschlenkert.  Wunderbar diese schräge, z.t. schwarzhumorige, bunte Sprache, die Niemi in der Beschreibung nicht nur der Menschen, sondern auch der Begebenheiten, der Bräuche und Traditionen des Volkes verwendet.  Wir lesen von Prügelszenen, einer total aus den Fugen geratenen Hochzeitsfeier in der fingergehakelt wird und natürlich einem Saunawettbewerb. Und die Beerdigung der Oma mit ihren dazugehörigen Erbstreitigkeiten dem 70.ten Geburtstag von Opa Mattis, der den westeuropäischen Leuts mal zeigt, was Kampftrinken bedeutet.  Immer wieder hab ich das Buch kurz beiseite legen müssen, weil es mir einen Lacher nach dem anderen schenkte.

Wie auch immer, könnte noch Vieles hier wiedergeben, doch will ich ja nicht alles verraten, empfehle das Buch von Herzen. Ein Buch über das Erwachsenwerden junger Menschen, die selbst in den enferntesten Winkeln dieser Erde ihren Weg gehen voller Humor und dennoch auch Tiefe beinhaltet.

 

Mikael Niemi

Populärmusik aus Vittula

btb-Taschenbuch

ISBN: 978-3442-7311725

9,99 Euro

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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8. Februar 2023 3 08 /02 /Februar /2023 21:20

In dieser Buchvorstellung geht es mir darum,  einmal einen Autor ins Licht zu rücken, der nicht schon in Toplisten auftaucht, den ich aber unbedingt lesenswert empfinde.
 
Kennen ihr das Gefühl, auf einer Wiese oder am Wasser zu liegen, einfach in den Himmel zu schauen und die Wolken zu beobachten? Man kann sich total darin verlieren. Als Kind habe ich immer Figuren in die Wolkengebilde projiziert. Mache ich übrigens heute noch! Der meditative Charakter ist sehr groß. Prima philosophieren kann man dabei auch. Ist unser Leben nicht ähnlich wie der Wolkenhimmel? Mal klar, mit strahlend blauem Himmel, mal bewölkt, mal stürmisch, mal einfach durchgehend grau.  Also wer das alles kennt, für den ist folgendes Buch von Stephan Audeguy  empfehlenswert und lädt zum Träumen ein.
 
Stephane Audeguy wurde 1964 in Tours geboren und studierte in Paris Literaturwissenschaften. Beruflich unterrichtet er Literatur und Kinowissenschaften an einem Gymnasium in Paris, wo er auch lebt.
 
Das Buch „Herr der Wolken“ ist sein Debütroman und einfach klasse. Es fällt unter das Genre „historischer Wissenschaftsroman. Es haben sich ja schon viele Schriftsteller mit den Fragen nach Gott, der Seele und den letzten Dingen beschäftigt, aber die Frage nach der Naturwissenschaft blieb bisher immer ein bisschen hinten vor. Der Roman spielt in der zeit vom 19. Jahrhundert bis ins heutige 21.Jahrhundert hinein.
 
Zum Inhalt:
 
Ein gefeierter japanischer Modeschöpfer, Akira Kumo, der in Paris lebt, zieht sich aus dem Berufsleben zurück. Er möchte sich einen großen Traum erfüllen, nämlich seine Bibliothek zum Thema „Wolken“ ordnen und katalogisieren lassen. Hierfür stellt er eine Bibliothekarin, Virgin Latour, ein. Im Laufe ihrer Zusammenarbeit erzählt er der jungen Frau über die Herkunft der einzelnen Bände, die er gesammelt hat und über die Wissenschaftler, die sie geschrieben haben.
 
Da wäre z.B. der Quäker Luke Howard, der als erster den einzelnen Wolkentypen Namen gab, z.B. Circus, Cumulus, Stratus und Nimbus. Howard hatte in seiner Zeit umfangreichen Briefkontakt mit Goethe.
 
Dann den Maler Carmichael, der die Wolken tagelang beobachtete, malte und zeichnete und darüber schwermütig wurde. Die Sehnsucht nach dem, was sich hinter den Wolken verbirgt, wurde so groß in ihm, dass er sein Tagesgeschäft immer mehr vernachlässigte.
 
Dann der Weltreisende Abercrombie, nach dessen letzten Aufzeichnungen in der Wissenschaftswelt fieberhaft gesucht wird. Abercrombie erfährt Abenteuer in der Wildnis mit brutal niedergemetzelten Affen und wird dadurch von seinem eigentlichen Vorhaben abgelenkt. Auch lässt er sich auf Abenteuer mit Frauen aus den verschiedensten Ländern ein. Seine erotischen Eskapaden veranlassen ihn dazu, ich will nichts verraten, bestimmte Details der Frauen zu fotografieren.
 
Zum Schluss noch der Mathematiker und Meteorologe Lewis Fry Richardson. Sein Interesse war Wettervorhersagen mittels Differentialgleichungen genauer darzustellen.
 
Während Richardson und Howard tatsächlich gelebt haben, ist der Maler Carmichael und Abercrombie frei erfunden. Das hat aber keine weitere Bedeutung für die Abfolge des Romans.
 
Beim Schildern dieser Persönlichkeiten, die sich mit dem Thema Meteorologie beschäftigt haben, schildert Kumo auch seine persönliche Geschichte der jungen Bibliothekarin. Er ist nämlich traumatisiert, weil er 1945 an einem wolkenlosen Augusttag ein Überlebender der Bombe über Hiroshima war. Am Ende kommt er seiner schrecklichen Geschichte auf die Spur, die er sein Leben lang verdrängt hat. Natürlich hat mich das besonders beeindruckt zu sehen, über welchen Verdrängungsmechanismus der Mensch verfügt, sich ein Leben zurechtecht baut, in dem er meint, zu Hause zu sein. Leider ist es oft so, wie auch bei ihm, dass all die Verdrängungen wie eine tickende Bombe in der Seele liegt und darauf wartet zum Ausbruch zukommen. Bei vielen Menschen führt das ja bekanntlich dann manchmal zu Psychosen, Depressionen etc..
 
Das Buch hat verschiedene Erzählstränge, fügt sich aber insgesamt zusammen und ergibt ein einheitliches Bild. Es ist teils witzig, teil sachlich-nüchtern geschrieben. Für mich ist das Verschwimmen seiner Bilder ins Märchenhafte eines der schönsten Momente im Buch. Das Buch zählt über 200 Jahre Geschichte der Meteorologie auf und ich muss gestehen, ich hab sehr viel daraus gelernt, da ich mich vorher nie mit dem Thema beschäftigt hatte.
 
Kleine Leseprobe vom Anfang des Buches:
 
Gegen fünf Uhr abends sind alle Kinder traurig: Sie beginnen zu begreifen, dass es an der Zeit ist. Die Dämmerung naht. Sie werden wohl oder übel nach Hause müssen, brav sein und lügen. Eines Sonntags im Juni 2005 gegen fünf Uhr abends spricht ein japanischer Modeschöpfer namens Akira Kumo mit der Bibliothekarin, die er soeben eingestellt hat. Er sitzt in der Rue Lamarck im dritten Stock seines Stadtpalais, in der Privatbibliothek, die dem Himmel zugewandt ist: Dreißig Quadratmeter einer doppelt verglasten Fensterfront schlucken alle Geräusche der Stadt. Über der grauen Zeile der Dächer reihen sich die Wolken, immer gleich und immer sich wandelnd, gleichgültig gegenüber den Landschaften, auf die sie herabblicken?
 
Viel Freude beim Lesen, ich hoffe, ich habe  neugierig gemacht!

 

Stephan Audeguy

Herr der Wolken

Rowohlt-Verlag

9,99 Euro

ISBN: 978-3-688-11216-6

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