Das harte Geräusch heruntersausender Rollläden dringt in die Stille seiner Wohnung. Oh, tatsächlich, schon wieder 18.45 Uhr. Ein Blick aus dem Fenster zeigt ihm, dass sich ein Hauch von Dunkelheit über die Landschaft gelegt hat. Die Leutchen unter ihm, seine Hausgenossen, sind in Sachen Rollladen-Disziplin gnadenlos. Der genaue Zeitpunkt des Herunterlassens ist strikt an die draußen herrschenden Helligkeitsverhältnisse geknüpft. Abweichungen von dieser Regel konnte er nur in ganz seltenen Ausnahmefällen beobachten, bei Verspätungen im Bereich von einer halben Stunde muss ein sehr triftiger Grund vorgelegen haben.
Am frühen Morgen geht es ebenfalls sehr genau zu, allerdings greift dann eine andere Dienstvorschrift. Obwohl es sich bei seinen Mitbewohnern um Rentner handelt, gehen jeden Morgen um Punkt 7.00 Uhr zahlreiche Rollläden des Hauses hoch, im Sommer wie im Winter, an Werk-, Sonn- und Feiertagen gleichermaßen. Aber keinesfalls von einer Zeitschaltuhr gesteuert, sondern größtenteils im Handbetrieb, einige per Knopfdruck. Für die Nachbarschaft ist dies nicht nur ein sehr zuverlässiges Weck- Zeitsignal, sondern auch das Zeichen dafür, dass das Haus jetzt wieder für den allgemeinen Publikumsverkehr geöffnet, die Dienstbereitschaft sichergestellt ist.
Geburtstagsfeier bei Muttern. Ein bisschen bucklige Verwandschaft, ein paar interessante Diskussionen und vor allen Dingen: Kaffee und leckerer Kuchen. Ungefähr 90 Minuten nach dem Kaffeeklatsch heißt es unerbittlich: Zeit fürs Abendbrot! Es ist etwa 18.00 Uhr, er fühlt sich wie in einer Klinik oder in einem streng geführten Altenheim. Im Prinzip ist er ein sehr guter Esser, er kann schon Unmengen vertilgen, wenn es darauf ankommt, aber dieses fahrplanmäßige Abendbrot kommt ihm doch 2-3 Stunden zu früh. Er versucht, seine Meinung einzubringen, kann aber doch nicht mehr als eine Viertelstunde herausschlagen. Die Abfertigung darf nicht ins Stocken geraten , die Zugereisten wollen ja auch wieder zeitig nach Hause fahren, das Bubchen muss ins Bett...Oder wie die ausgedachten Argumente auch lauten mögen.
September, Altweibersommer, es ist heiß. Im Supermarkt hält Weihnachten Einzug, in den Regalen tauchen Lebkuchen und Spekulatius auf, zum Teil wirklich sehr preisgünstig. Wahrscheinlich lautet die dahinterstehende Philosophie: Das Zeug muss raus, wir können nicht ewig damit warten. FAst unnötig zu sagen, dass man 3 Tage vor Weihnachten in demselben Geschäft weder Lebkuchen noch Spekulatius bekommt. Tja, wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Sein Hinweis an die Angestellte, dass ein Hund vollkommen außerstande ist, einen Wurstvorrat anzulegen, wird mit einem Lachen beantwortet. Es sind wohl nur wenige Hunde in der Kundschaft vertreten, stattdessen hat man es wohl in erster Linie mit disziplinierten Verbrauchern zu tun, die im Spätsommer ihre Spekulatiusvorräte anlegen und diese bis Heiligabend unangetastet lassen.
Dezember 2015. Anhaltend schlechtes Wetter, fast jeden Tag kalter Regen, oft mit Eis oder Schnee vermischt. Ein paar Häuser weiter sind zwei Bauarbeiter am Werk, eine Garage soll entstehen, mit einem Keller-Unterbau und dazugehörigem KFZ-Lift. Bei den Tiefbauarbeiten ist Beton im Weg, der zum Teil mit einem Presslufthammer abgetragen werden muss. Die beiden tapferen Recken stehen Tag für Tag in ihrem selbst ausgebaggerten Erdloch, kämpfen gegen den Beton, gegen das Regenwasser und gegen die Kälte an. Ihr Arbeitstag ist sehr lang, am Abend werden Scheinwerfer eingeschaltet, um noch ein paar Stunden zu gewinnen. Auch am Samstag arbeiten sie. Sie arbeiten sehr effektiv, er staunt über die schnellen Fortschritte, die gemacht werden. Und sie schaffen es: Kurz vor Weihnachten, nach 3-4 Wochen intensiver Bauarbeiten, ist der Rohbau fix und fertig, sogar die Dachbedeckung wurde von den beiden angebracht. Ihm hat diese Leistung schwer imponiert. Aber ihm hat schon damals etwas geschwant, und er sollte Recht behalten. Heute, über ein Jahr nach der Fertigstellung des Rohbaus, hat noch kein einziges Auto die Schwelle dieser Garage überquert. Vielleicht müssen noch ein paar Details geklärt werde , vielleicht hat man doch keinen geeigneten Garagenmieter gefunden, oder der Besitzer hat bisher keine Zeit gefunden, sich um die Sache zu kümmern.
Ihn verblüfft auch oft die Rasanz, mit der viele Leute ihren Lebenslauf abwickeln. Er erinnert sich noch gut daran, wie er seit langer Zeit einmal wieder einen Schulkameraden auf der Straße traf. Der konnte sich das Lachen bei seinem Anblick nicht verkneifen, meinte dass er noch exakt so aussehe wie 15 Jahre zuvor als Schulbube. Sein Äußeres hatte sich ziemlich verändert, war er am Ende durch die Hölle gegangen? Er berichtete ihm davon, dass er eine Familie gegründet hat, mit Kindern und so weiter, aber auch, dass leider die Ehe inzwischen längst geschieden ist. Er war baff, ihm ging das alles viel zu schnell. Manchmal denkt er, dass man die Lebenserwartung einer Riesenschildkröte haben müsste, so an die 180 Jahre. Dann könnte man sich ganz anders in die Dinge hineinknien, hätte als Mensch eine ganz andere Einarbeitungszeit zur Verfügung und könnte in seinen Erkenntnissen sicher sehr viel weiter kommen.
Nachtmenschen sind ihm sympathisch, sie hinken immer ein bisschen hinterher. Welche Wohltat, wenn bei der Zeitumstellung im Herbst der Tag einmal 25 Stunden hat! Aber er will nicht an den biologischen und pyhsikalischen Grundtatsachen des Lebens rütteln. Der Mensch hat nun mal eine Lebenserwartung von ca. 80 Jahren und die Erde braucht nun mal 24 Stunden, bis sie sich einmal um ihre Achse gedreht hat. Trotzdem will er die Langsamkeit loben. Und weil Niemand mit seinen schrägen Ansichten gern ganz allein dasteht, denkt er an ein Zitat, das von Friedrich Nietzsche stammt:
"Du liefst zu rasch: Jetzt erst, wo du müde bist, holt Dein Glück dich ein"