Der Mensch will sein eigenes Leben immer kontrollieren. Er will es in der Hand haben, es steuern, festlegen, wohin es gehen soll, wie seine Zukunft auszusehen hat. Gerade in den letzten Monaten ist mir das wieder besonders klar geworden. Ich hab schon junge Leute erlebt, die dann älter geworden, mit einer riesigen Enttäuschung nicht zurecht gekommen sind, weil es nicht so gelaufen ist, wie sie sich das Leben angedacht haben. Da ist z.B. die Frau, sie hatte nach dem Abitur ihr Studium gemacht und dann einen Job in einer Marketingfirma bekommen. Sie ist relativ schnell aufgestiegen, hat Karriere gemacht, viel rumgekommen. Dann hatte sie „ihn“, den Mann ihrer Träume kennen gelernt und sie sind schnell zusammengezogen. Sie haben geplant und geplant. Wie lange noch der Job, dann das Häuschen, dann die Kinder. Die Kinder sollten mit Mitte dreißig kommen. Bis zu dieser Zeit lief alles genau nach Plan. Dann wurde sie schwanger, verlor das erste Kind und fiel in ein Loch. Nachdem sie es einigermaßen verarbeitet hatte, versuchte sie erneut schwanger zu werden. Es dauerte noch mal drei Jahre. Das Kind kam, aber sie kam nicht zurecht. Als die Kleine 2 Jahre alt war, verstarb ihr Mann ganz plötzlich an Bauchspeicheldrüsenkrebs. Für sie ist in diesem Moment eine Welt zusammengebrochen. Sie ist jetzt 42 Jahre alt und kommt nicht mehr klar. Hat sich total zurückgezogen, lebt nur noch in den Tag hinein, ohne Sinn und Ziel. Das Kind wird teilweise von ihrer Mutter erzogen. Gerade an diesem Beispiel wurde mir sehr deutlich, dass man zwar planen kann, aber dass das Leben einem oft einen Strich durch die Rechnung macht und wie wir dann damit umgehen, ist die große Frage. Meistens entsteht ein Gefühl der Ohnmacht.
Ich selber erlebe diese Ohnmacht auch gerade in der Beziehung zu meiner Mutter. Was macht man mit einem Menschen, der sterben wird, der nicht weiß, wie lange er noch zu leben hat, aber der trotzdem alles, was man ihm anbietet, ablehnt. Der sich verbarrikadiert hinter seiner Verstocktheit. Gerade jetzt wird mir wieder bewusst, wie viele Situationen es in meinem Leben gab, an denen ich ohnmächtig davor stand. Die ich nicht mit in meine Lebensplanungen mit hingenommen habe, die einfach auf mich zugekommen sind, ungewollt. Ich erinnere mich auch sehr genau an die Zeit, als meine Tochter flügge wurde. Sie die ersten Nächte spät nach haus kam, wie ich in irrationalen Ängsten nachts am Fenster gestanden habe, hinausgeschaut habe, sie versucht habe anzurufen, weil ich kontrollieren wollte, ob alles gut war. Das war ein Lernprozess damals für mich. Die Kontrolle aufzugeben und Vertrauen zu haben in das, was geschieht. Loszulassen und daran zu glauben, dass es Dinge gibt zwischen Himmel und Erde, die möglicherweise sogar vorbestimmt sind und auf die ich keinen Einfluss habe, sei es nun positiv oder negativ. Ich habe es gelernt und von da an ging es uns beiden besser, meiner Tochter und mir. Dann reiste sie alleine ein Jahr durch Australien, auch hier kam dann wieder ein ähnliches ängstliches Kontrollverhalten durch. Ich rief sie sehr oft an und auch hier wieder der erneute Lernprozess, zu akzeptieren, sie ist am anderen Ende der Welt und ich habe keinen Einfluss auf ihr Leben, außer dass ich ihr gute Gedanken und Vertrauen sende, daran, dass sie es meistern wird. Hat sie dann ja auch, Gott sei Dank und ist gereift und selbstbewusst nach Hause zurückgekommen.
In dem Falle meiner Mutter lerne ich es gerade auch. Es gibt Situationen, wo ich so verzweifelt bin, wenn ich sie am anderen Ende des Telefons höre, wenn sie weint, wenn alte Geschichten wieder aufbrechen und der Schmerz sich in meinem Körper breit macht. Ich will etwas tun, aber kann nichts tun, außer loslassen und vertrauen darauf, dass alles seinen Weg geht.
Auch mein Leben kann ich mit Plänen für die Zukunft bestücken, aber ich habe mittlerweile gelernt, dass es jeden Moment anders kommen kann. Ein Beispiel war der Montagabend, als ich von der Arbeit nach einem langen Tag, ich war vor der Arbeit noch in Bergheim bei der Mutter, mit dem Auto nach Hause fuhr. Ich muss zugeben, ich fühlte mich sehr schwer, von all den Dingen, die passiert waren in den letzten Wochen. Man versucht stark zu sein, nimmt auf, Gefühle, Worte und Gedanken, aber man funktioniert weiter, geht ja auch nicht anders. So fuhr ich also, endlich erleichtert, den Arbeitstag hinter mich zu lassen, Richtung Nippes. An der Ecke Weißenburgstrasse/Hülchratherstrasse fuhr ich geradeaus, ein bisschen verträumt muss ich zugeben. Und plötzlich quietschte es und ich sah nur noch, wie kurz vor meinem Auto ein schwarzer Mercedes zum Stehen kam. Mein ganzer Körper zitterte und ich war nicht fähig auszusteigen. Ich saß in Tränen ausgebrochen hinter dem Steuer und der Fahrer öffnete meine Türe und sprach mich, selber auch vom Schock gezeichnet, ganz leise an, gab mir die Hand und holte mich aus dem Wagen. Es war Gott sei dank nichts passiert, wir standen eine Weile und sprachen miteinander. Als ich mich wieder etwas gefestigt hatte, gab er mir noch seine Adresse, bat mich um meine. Gestern bekam ich einen Blumenstrauß von ihm, den er mir in die Buchhandlung brachte. Ich fand das sehr sehr nett. Er hatte einfach die rote Ampel überfahren, war selbst in seinen Träumen versunken. So kann es gehen, dachte ich auch dieses Mal wieder. Ich habe nichts unter Kontrolle, es ist alles eine Illusion. Man denkt nur, man sei Herr seines Lebens, vielleicht für Momente ist das ja auch so, aber im Großen und Ganzen sind wir immer ausgeliefert auch an eine höhere Gewalt.
Ich weiß jetzt auch, warum ich nicht so gerne Aufzug fahre. Ich kann es nicht ertragen in kleinen geschlossenen Räumen zu sitzen. Alte Kindheitsängste kommen dann immer wieder in mir durch. Daher laufe ich fast immer zu Fuß die Treppen hoch, selbst in den zehnten Stock. Aber gestern erlebte ich eine Situation, da war der Körper so müde, das ich wegen eines Buches, dass ich zu einem Kunden bringen musste und der im achten Stock eines Hochhauses wohnte, einen Aufzug nach langer Zeit wieder betreten habe. Ich erinnere mich genau an meine Gefühle. Ich drückte auf den Knopf, um den Aufzug runterzuholen. Ein kleiner Spalt an der Tür ließ mich sehen, dass er vor mir stand. Ich öffnete die Türe, meine Knie zitterten und ich betrat den wirklich sehr kleinen Raum. Die Tür ging zu und es zog sich noch mal eine kleine geschlossene Innentür davor. Ich musste einmal tief durchatmen und dann begann der Aufzug sich langsam zu bewegen. Zuerst gingen mir die alten Angstprojektionen wieder durch den Kopf, wenn der jetzt stecken bleibt, wenn jetzt ein Feuer ausbricht. Ich begann wieder durchzuatmen und ganz plötzlich lösten sich der Krampf und die Verspannung, weil ich innerlich aufgegeben habe. Ich hatte mich ganz bewusst dem übergeben, was passieren könnte. Na und, hab ich gedacht, wenn es jetzt passiert, dann kannst du auch nichts mehr machen. Dann ist das eben so. Von dieser Sekunde an, fühlte ich mich plötzlich sehr befreit, alle Ängste waren weg. Merkwürdigerweise habe ich mich in diesen Sekunden so sicher wie noch nie gefühlt. Im Gegenteil, es machte mir plötzlich sogar große Freude in diesem kleinen Raum zu stehen. Ein Gedanke überfiel mich, wie es jetzt wäre, wenn ich mich einfach in die Ecke kauern könnte, um mit dem Aufzug immer tiefer und tiefer und tiefer zu fahren. Ich mit mir allein. Niemand der an mich herankommt. Ich mir selber ausgesetzt, meinen Gedanken, meinen Gefühlen und meinem Denken. Das war ein so unbeschreibliches schönes Erlebnis, weil es mir zeigte, dass es stimmt, dass man die Kontrolle abgeben kann, sich vertrauensvoll an das, was geschehen soll, übergeben kann und weil es dann keine Kraft mehr kostet. Außerdem zeigte mir dieser Moment auch, wie sehr ich mich danach sehne, einmal wieder ganz bei mir sein zu dürfen, ohne die Ansprüche von außen und das was mir das Leben so schwer macht, was oft so kräftezehrend ist.
Wir haben keine Kontrolle über unser Leben, wir denken es nur. Alles hat seinen Plan im großen Weltenall, unser Schicksal verbunden mit den Schicksalen der Menschen, denen wir begegnen. Und ich betrachte es als momentanes Geschenk diese Haltung zu haben, ohnmächtig sein zu dürfen und dass die Zeit für mich arbeiten wird.