Schon beim Erwachen wusstest du es, nein nicht, dass Sonntag war, das war dir klar, aber dass es ein ganz besonderer Sonntag wird. Ein richtiger Sonntag.
Was ist ein richtiger Sonntag für den Menschen?
Ein richtiger Sonntag für mich ist, wenn du fühlst, dass die Welt für dich still steht. Kein Lärm, von nirgendwoher. Kein Mensch, der zu sehen ist. Kein Auto, das von hier nach dort fährt. Alles still. Noch.
Auf dem Balkon stehend lauschst du dem leisen Rascheln der gelbroten Herbstblättern nach, die langsam zu Boden flattern. Wie liebst du diese Jahreszeit. November. Alle bangen sich wegen dieses Monats. Er sei traurig, sagen die einen. Er wirke bedrückend andere wieder. Alles grau und trüb. Regen. Wolkenverhangener Himmel. Für dich war er niemals so. Nur eine Zeit die alles verabschiedet, eine kleine Weile noch, bis zeitgemäß das Neue aufbricht. Ein kurzer Moment doch nur, den du immer schon festhalten mochtest.
Du stehst da, auf Deinem Balkon, die Nase in die frische Herbstluft gestreckt, atmest durch und selig glücklich denkst du, wie schön, ich...ich lebe...das Leben ist schön.
Von anderen, den Freunden und Bekannten weißt du, sie sind unterwegs. An diesem Sonntag. Nach einer Woche mühsamen Arbeitens heute das Programm. Du hast es vergessen, was es war. Irgendwas mit Kultur, Ausstellung, Kino, Musik. Ja Musik, hätte es vielleicht sein können. Auch für dich. Du solltest ja mitkommen. Aber du hast dich anders entschieden. Allein zu bleiben. Nur für dich und diesen Sonntag. Dem richtigen Sonntag. Für dich.
Du schlurfst in die Küche. Machst dir ein Frühstück. Sitzt da am Tisch, die Kerze flackert. Draußen immer noch die fallenden Blätter von den Bäumen und Stille.
Behaglich, danach, das Sitzen an deinen Schachbrettern. Ein kleiner Plausch mit den manchmal unbekannten und bekannten Spielpartnern am Brett. Ein paar Worte nur, ausgetauscht. Was zum Lachen. Was zum Nachdenken. Anteil genommen. Am Leben. der/des Anderen. Auch das so schön. Aber du willst da nicht verharren. An den Brettern des Spiels. Obwohl du es so unendlich liebst.
Jetzt einfach nur Sitzen. Da, auf dem Sofa und still werden, wie der richtige Sonntag. Der stille. Und das Buch betrachten. Das da liegt und auf dich wartet. Fast bis zur Mitte hast du es verinnerlicht. Vielleicht schaffst du es heute bis zum Ende. An diesem mittlerweile immer noch stillen Nachmittag. Auf deinem Sofa.
Du machst dir ein wenig Musik an. Anour Brahem soll es sein. Dann liegst du und liest. Die Geschichte, die im *Alten Land* spielt. Die Gegend, die dir selber so ans Herz gewachsen ist im Laufe deines Lebens. Vielleicht auch deswegen, weil die Mutter, deine, auch dort gestrandet ist. Wie die Flüchtlinge in dem Buch. Im Krieg. Geflohen von überall her. Wie deine Eltern. Vater. Mutter. Und die Zeilen berühren dein Herz. Wegen dem Gefühl des Gestrandetseins. Dem Hinausgeworfen zu sein, aus der Heimat. Wie deine Eltern. Als wenn du sie jetzt noch besser verstehen kannst. Dass sie immer mit diesem nicht hierher gehören-Gefühl gelebt haben. Ein bisschen haben sie das an dich weitergegeben. Dieses, nicht so ganz irgendwo hinzugehören. Ein Fremder doch immer zu bleiben. Und Heimat für dich nur da ist, wo es Menschen gibt, die dich verstehen und die du magst, so wie sie dich mögen. Der Ort ist egal.
Du erinnerst dich daran, wie sie auch dich beschimpft haben. Damals. Dort, wo du aufgewachsen bist. Keine gute Gegend. Ein Übergangsort. Du Pollackenkind, haben sie dir manchmal hinterher gerufen. Und du wußest gar nicht, was das bedeutet. Damals. Es ist auch nicht mehr wichtig. Jetzt.
Jetzt liegst du hier. Auf dem Sofa. Versunken in die Geschichte. Gleichzeitig spielt die Musik. Du hattest dir Arvo Pärt ausgesucht. Für den nun spät gewordenen Nachmittag. Die Symphonien fügen sich ein in die gelesenen Zeilen. Beides wird in dir eins. Sie passen zur Geschichte.
Doch dann, ganz plötzlich, Eine Melodie, die dich innehalten lässt. Du legst das Buch fort und hörst nur noch. Klavierklänge so zart, so leise, so bezaubernd. Sie dringen tief in dich ein, die Töne. Sie lassen Tränen in Dir hervorbrechen. Die kommen einfach so. Ungewollt. Es ist gar nichts da, über dass du weinen müsstest. Gerade jetzt in diesem Moment beim Hören dieser wunderbaren Klänge. Obwohl es genug zum Weinen gäbe. Das Gestern, der Freund, erst kürzlich verstorben. Und nun noch der letzte, der im Sterben liegt, jetzt. In diesem Moment. Wo du hier liegst und diesen Tönen nachhörst. Der es schwer hat. Sehr schwer. Nein, darüber weinst du gerade tatsächlich nicht. Denn du hast es ja akzeptiert. Es ist so. Das Leben ist so. Auch du wirst gehen. Irgendwann.
Nein du weinst einfach so. Weil das *Tabula rasa* von Arvo Pärt einfach so unglaublich schön ist. Violine und Klavier. Musik die die Zeit anhält. Ein Zauber von Ewigkeit im Raum. Und das alles gut ist, wie es ist und wie es sein wird. Dass alles zusammengehört in der unendlich großen und langen Welt- und Menschheitsgeschichte, auch deiner eigenen.
Du bist so glücklich in diesem Moment. Draußen hat nun der Regen begonnen. Es tropft an deine Fenster. Es ist dunkel geworden. Die Kerze flackert vor dir. Und du denkst, es ist spät geworden. Du hast es gar nicht bemerkt. Wie der Tag sich dem Ende zugeneigt hat. Einfach so. Obwohl du gar nicht viel getan hast. Am Ende diese unfassbare Schönheit, die dir diese Musik von Arvo Pät geschenkt hat.
Du wirst nun nicht mehr viel tun. Immer noch nicht viel tun. Noch die letzten Seiten deiens Buches zu Ende lesen. Vielleicht noch ein wenig an deinen Schachbrettern sitzen.
Ja, das war ein richtiger Sonntag. Für mich! Ich hoffe, für meine geneigten Leser, dass ihr ebenfalls einen *richtigen Sonntag* erlebt habt. So, wie er zu euch passte.