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8. Februar 2023 3 08 /02 /Februar /2023 21:20

In dieser Buchvorstellung geht es mir darum,  einmal einen Autor ins Licht zu rücken, der nicht schon in Toplisten auftaucht, den ich aber unbedingt lesenswert empfinde.
 
Kennen ihr das Gefühl, auf einer Wiese oder am Wasser zu liegen, einfach in den Himmel zu schauen und die Wolken zu beobachten? Man kann sich total darin verlieren. Als Kind habe ich immer Figuren in die Wolkengebilde projiziert. Mache ich übrigens heute noch! Der meditative Charakter ist sehr groß. Prima philosophieren kann man dabei auch. Ist unser Leben nicht ähnlich wie der Wolkenhimmel? Mal klar, mit strahlend blauem Himmel, mal bewölkt, mal stürmisch, mal einfach durchgehend grau.  Also wer das alles kennt, für den ist folgendes Buch von Stephan Audeguy  empfehlenswert und lädt zum Träumen ein.
 
Stephane Audeguy wurde 1964 in Tours geboren und studierte in Paris Literaturwissenschaften. Beruflich unterrichtet er Literatur und Kinowissenschaften an einem Gymnasium in Paris, wo er auch lebt.
 
Das Buch „Herr der Wolken“ ist sein Debütroman und einfach klasse. Es fällt unter das Genre „historischer Wissenschaftsroman. Es haben sich ja schon viele Schriftsteller mit den Fragen nach Gott, der Seele und den letzten Dingen beschäftigt, aber die Frage nach der Naturwissenschaft blieb bisher immer ein bisschen hinten vor. Der Roman spielt in der zeit vom 19. Jahrhundert bis ins heutige 21.Jahrhundert hinein.
 
Zum Inhalt:
 
Ein gefeierter japanischer Modeschöpfer, Akira Kumo, der in Paris lebt, zieht sich aus dem Berufsleben zurück. Er möchte sich einen großen Traum erfüllen, nämlich seine Bibliothek zum Thema „Wolken“ ordnen und katalogisieren lassen. Hierfür stellt er eine Bibliothekarin, Virgin Latour, ein. Im Laufe ihrer Zusammenarbeit erzählt er der jungen Frau über die Herkunft der einzelnen Bände, die er gesammelt hat und über die Wissenschaftler, die sie geschrieben haben.
 
Da wäre z.B. der Quäker Luke Howard, der als erster den einzelnen Wolkentypen Namen gab, z.B. Circus, Cumulus, Stratus und Nimbus. Howard hatte in seiner Zeit umfangreichen Briefkontakt mit Goethe.
 
Dann den Maler Carmichael, der die Wolken tagelang beobachtete, malte und zeichnete und darüber schwermütig wurde. Die Sehnsucht nach dem, was sich hinter den Wolken verbirgt, wurde so groß in ihm, dass er sein Tagesgeschäft immer mehr vernachlässigte.
 
Dann der Weltreisende Abercrombie, nach dessen letzten Aufzeichnungen in der Wissenschaftswelt fieberhaft gesucht wird. Abercrombie erfährt Abenteuer in der Wildnis mit brutal niedergemetzelten Affen und wird dadurch von seinem eigentlichen Vorhaben abgelenkt. Auch lässt er sich auf Abenteuer mit Frauen aus den verschiedensten Ländern ein. Seine erotischen Eskapaden veranlassen ihn dazu, ich will nichts verraten, bestimmte Details der Frauen zu fotografieren.
 
Zum Schluss noch der Mathematiker und Meteorologe Lewis Fry Richardson. Sein Interesse war Wettervorhersagen mittels Differentialgleichungen genauer darzustellen.
 
Während Richardson und Howard tatsächlich gelebt haben, ist der Maler Carmichael und Abercrombie frei erfunden. Das hat aber keine weitere Bedeutung für die Abfolge des Romans.
 
Beim Schildern dieser Persönlichkeiten, die sich mit dem Thema Meteorologie beschäftigt haben, schildert Kumo auch seine persönliche Geschichte der jungen Bibliothekarin. Er ist nämlich traumatisiert, weil er 1945 an einem wolkenlosen Augusttag ein Überlebender der Bombe über Hiroshima war. Am Ende kommt er seiner schrecklichen Geschichte auf die Spur, die er sein Leben lang verdrängt hat. Natürlich hat mich das besonders beeindruckt zu sehen, über welchen Verdrängungsmechanismus der Mensch verfügt, sich ein Leben zurechtecht baut, in dem er meint, zu Hause zu sein. Leider ist es oft so, wie auch bei ihm, dass all die Verdrängungen wie eine tickende Bombe in der Seele liegt und darauf wartet zum Ausbruch zukommen. Bei vielen Menschen führt das ja bekanntlich dann manchmal zu Psychosen, Depressionen etc..
 
Das Buch hat verschiedene Erzählstränge, fügt sich aber insgesamt zusammen und ergibt ein einheitliches Bild. Es ist teils witzig, teil sachlich-nüchtern geschrieben. Für mich ist das Verschwimmen seiner Bilder ins Märchenhafte eines der schönsten Momente im Buch. Das Buch zählt über 200 Jahre Geschichte der Meteorologie auf und ich muss gestehen, ich hab sehr viel daraus gelernt, da ich mich vorher nie mit dem Thema beschäftigt hatte.
 
Kleine Leseprobe vom Anfang des Buches:
 
Gegen fünf Uhr abends sind alle Kinder traurig: Sie beginnen zu begreifen, dass es an der Zeit ist. Die Dämmerung naht. Sie werden wohl oder übel nach Hause müssen, brav sein und lügen. Eines Sonntags im Juni 2005 gegen fünf Uhr abends spricht ein japanischer Modeschöpfer namens Akira Kumo mit der Bibliothekarin, die er soeben eingestellt hat. Er sitzt in der Rue Lamarck im dritten Stock seines Stadtpalais, in der Privatbibliothek, die dem Himmel zugewandt ist: Dreißig Quadratmeter einer doppelt verglasten Fensterfront schlucken alle Geräusche der Stadt. Über der grauen Zeile der Dächer reihen sich die Wolken, immer gleich und immer sich wandelnd, gleichgültig gegenüber den Landschaften, auf die sie herabblicken?
 
Viel Freude beim Lesen, ich hoffe, ich habe  neugierig gemacht!

 

Stephan Audeguy

Herr der Wolken

Rowohlt-Verlag

9,99 Euro

ISBN: 978-3-688-11216-6

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