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25. April 2023 2 25 /04 /April /2023 14:56

Der schwedische Autor Mikael Niemi hat einen wundervollen Roman über das Erwachsenwerden in der Einöde des an der Grenze zu Finnland liegenden Dorfes Vittula geschrieben. Habe mich köstlich amüsiert. Und fast hätte der Ich-Erzähler des Buches die Geschichte gar nicht erzählen können, denn er wäre fast bei der Besteigung des 6515 m hoch gelegenen Thorong-La-Pass im Annapurnamassiv Nepal zu Tode gekommen. Nach langer Qual dort oben angekommen, glücklick, dass er es geschafft hat,  genießt er diese unfassbare Schönheit des Rundum.

Konnte das sehr gut nachempfinden, denn auch ich war schon auf einem solchen Pass, dem Taglang-La-Pass, allerdings nur in Höhe 5.360 m Höhe und weiß wie einem nicht nur der Schwindel der Höhe erreicht, sondern auch der Enthusiasmus angesichts der Aussicht. Und so küsst er im großen Aufschwall seiner Gefühle die dort angebracht Metallplatte mit den eingravierten tibetanischen Buchstaben. Alles in Ordnung also, doch von jetzt auf gleich frieren seine Lippen an der Metallplatte fest. Allein ist er dort oben. Es schien ihm, als wäre sein letztes Stündlein gekommen. Was soll er machen.

Auf Glück folgt Unheil, manchmal, andererseits umgekehrt auf Unheil gelegentlich auch Glück. In diesem seinem Fall hofft er auf eine rettende Idee, die ihm tatsächlich auch einfällt. Mit aller Kraft fischt er seinen Trinkbecher aus seinem Rucksack, pinkelt einen warmen Strahl hinein und giesst sich den warmen Urinstrahl über den Mund. Denn daran erinnerte er sich, so hat ihn seine Mutter als kleiner Bub mal von einem Brückengeländer losgeeist. Man kann auch sagen, er hat sich das Leben freigepinkelt. Schon allein diese Episode ist so was von herrlich und ich habe das Bild aus meinem Kopf beim nächtlichen Anfangslesen nicht aus dem Kopf bekommen und konnte nicht aufhören vor mich hin zu lachen. Ich begann das Buch schon jetzt zu lieben.

Die Sprache ist zum Teil sehr heftig, aber niemals abstossend. Und gerettet nun erzählt der Ich-Erzähler seine Geschichte auf 304 Seiten über das kleine Völkchen in Vittula, dem Erwachsenwerden mit all den Schwierigkeiten in der Pubertät  und vor allen Dingen über die Liebe zum Rock´n Roll und dessen Beeinflussung, die selbst die Jugend in den hintersten Orten dieser Welt erreicht hat.

Die Geschichte des Ortes mutet zum Teil etwas düster und finster an, doch macht es nie Unbehagen, sondern übt eher eine gewisse Faszination aus über diesen Ort, der so ganz anders ist als man sich Schönheit vorstellen kann. Denn gerade diese Düsterheit, diese Wildheit des Ortes, nimmt den Leser gefangen. Mich jedenfalls.

Das Buch erzählt von Menschen weitab vom Weltgeschehen, die noch in ihrer eigenen kleinen  zurechgemachten Welt leben, wo genau unterschieden wird was Männerarbeit und was Frauenarbeit ist. Wo man noch überlegen muss, ob eine Tasse spülen nun zur Sache des Mannes gehört oder ob es Weiberarbeit ist. Männer dürfen nicht *knapsu* (was weiblich bedeutet) wirken, auf gar keinen Fall. Männer fällen Holz, gehen auf Elchjagd, bearbeiten Baumstämme und verprügeln sich auf den dörflichen Tanzfesten. Knapsu sind die Mädchen und Frauen, sie müssen Gardinen aufhängen, mit dem Strickzeug am Ofen sitzen oder weben, Kühe melken oder Blumen gießen und andere Tätigkeiten des Haushalts verrichten.  Wilde animalische Triebe gehören zum Alltag und werden auch ausgelebt ohne zu hinterfragen. Eine gewaltige Bildsprache bedient sich Niemi in seiner Erzählung.

So hat mich z.B. die kleine Episode, die erzählt wird, total gefesselt. Er, der Ich-Erzähler hatte sich einmal in einem Heizungskeller eingesperrt aus Angst vor dem Hausmeister. 40 Tage hätte er dort verweilt, ohne zu essen und zu trinken. Hier hab ich ein wenig die Stirn in Falten gelegt, denn, ohne essen klar, aber ohne trinken? Na gut, habs einfach so stehen gelassen. Mir gefiel das Bild. Ich konnte mich hineindenken in ihn. Denn auch ich hatte in der Hausmeisterwohnung meiner Eltern abseits von den eigentlichen Wohnräumen ein kleines Zimmer hinter dem Heizungskeller. Und wenn es meinem Vater beliebte, weil ich scheinbar wieder etwas Falsches gesagt hatte, sperrte er mich dort ein. Natürlich bekam ich zu essen und zu trinken, aber manchmal dauerte der Stubenarrest. Und jedesmal hatte ich von mir selber den Eindruck, als wenn gerade diese Erlebnisse mich zutiefst verändert und entwickeln haben lassen. Da war ja nix, nur ich, meine Musik und meine Bücher und den Ausblick nach oben durchs vergitterte Fenster.

Und so beschreibt auch Niemi diese Einsamkeit als eine Veränderung seiner Selbst, er hatte den Eindruck, als er wieder herauskam, nun erwachsen geworden zu sein. Und es ist ja nicht nur die Einsamkeit dieser Zeit des Eingesperrtseins, sondern die Einsamkeit durchzieht ja die ganze Zeit des Erwachsenwerdens, gerade in der Pubertät, in denen so Vieles geschieht was man nicht begreift, was einen verunsichert und man sich fragt, wozu das alles, wer bin ich, woher komm ich, warum das alles und wie gehe ich meinen Weg.

Niemi erzählt auch über seine Freundschaft zu Niila, dem Jungen aus einem streng religiösen Elternhaus, in dem niemals gesprochen wurde. Eine Freundschaft zweier Jungen, die unterschiedlich gar nicht sein konnten, die aber durch diese Verbundenheit die Kraft fanden durch ihre Entwicklungsphasen zu gehen, ohne beschadet zu werden und die eine gemeinsame Liebe verband, nämlich die, zum Rock´n Roll.  Dieser Rock´n Roll beeinflusste sie in ihrem Denken und Fühlen von genau dem ersten Moment an, in dem sie das erste Gitarrensolo hörten und keinen anderen Wunsch mehr hegten, als selber einmal auf der Bühne zu stehen und mit Hüft- und Beinbewegungen und wie Elvis Presley einst die Herzen der Mädchen zu erobern. Der Virus Rock´n Roll erwischte sie beim Anhören einer Schallplatte, die sie durch die Tundra erreicht, von den Beatles, den Pilzköpfen, wie sie damals bezeichnet wurden. Musik von einem anderen Stern so dachten sie und gründeten dann eben genau eine solche Band.

Von den Erwachsenen wurde das jedoch, wie man sich denken kann, nicht gern gesehen. Die Erwachsenen im Dorf bezeichneten diese Musik als *knapsu*. Schon das Singen an sich galt für sie als unmännlich. Singen konnte man höchstens, wenn man betrunken war. Und ganz besonders *knapsu* war es, wenn man denn dann auch noch in englisch sang. Eine Sprache mit viel zu wenig Kauwiderstand für die harte finnische Aussprache und so nuschelig, dass eigentlich nur Mädchen in dieser Sprache eine gute Note bekommen konnten. Sie bezeichneten die englische Sprache als schneckenhaftes Rotwelsch, dass lallend und etwas feucht daher kam und von Schlamm tretenden Küstenbewohnern erfunden, die in ihrem ganzen Leben nie kämpfen musste, die weder gehungert noch gefroren hätten. Last but not least eine Sprache für faule Leute, Grasfresser, Kissenfurzer ohne eigene Kraft, so daß die Zunge wie eine abgeschnitte Vorhaut im Mund herumschlenkert.  Wunderbar diese schräge, z.t. schwarzhumorige, bunte Sprache, die Niemi in der Beschreibung nicht nur der Menschen, sondern auch der Begebenheiten, der Bräuche und Traditionen des Volkes verwendet.  Wir lesen von Prügelszenen, einer total aus den Fugen geratenen Hochzeitsfeier in der fingergehakelt wird und natürlich einem Saunawettbewerb. Und die Beerdigung der Oma mit ihren dazugehörigen Erbstreitigkeiten dem 70.ten Geburtstag von Opa Mattis, der den westeuropäischen Leuts mal zeigt, was Kampftrinken bedeutet.  Immer wieder hab ich das Buch kurz beiseite legen müssen, weil es mir einen Lacher nach dem anderen schenkte.

Wie auch immer, könnte noch Vieles hier wiedergeben, doch will ich ja nicht alles verraten, empfehle das Buch von Herzen. Ein Buch über das Erwachsenwerden junger Menschen, die selbst in den enferntesten Winkeln dieser Erde ihren Weg gehen voller Humor und dennoch auch Tiefe beinhaltet.

 

Mikael Niemi

Populärmusik aus Vittula

btb-Taschenbuch

ISBN: 978-3442-7311725

9,99 Euro

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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