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10. Oktober 2008 5 10 /10 /Oktober /2008 18:18
"Bald wirst Du 82 sein. Du bist um sechs Zentimeter kleiner geworden. Du wiegst nur noch 45 kg, und immer noch bist Du schön, graziös und begehrenswert. Seit 58 Jahren leben wir nun zusammen, und ich liebe Dich mehr den je."
 
(Andre Gorz: "Brief an D")
 

Mit diesen Worten beginnt das Buch, das Andre Gorz geschrieben hat und es ist eine Liebeserklärung an seine Frau Dorine.
Schon allein dieser Satz hat mir eine Gänsehaut verursacht. Welcher Mann kann das am Ende, im Alter, von seiner Frau sagen. Und wenn ja, wer sagt es wirklich!
Er hat diese öffentliche Liebeserklärung kurz vor ihrem gemeinsamen Freitod veröffentlicht. Niemand hatte damit gerechnet, die engsten Freunde waren erschüttert.
 
Andre Gorz, Philosoph und Soziologe, suchte sein Leben lang sich selber, als Kapitalismuskritiker suchte er nach der "einen Freiheit der Lohnarbeit." Immer wieder forderte er Konzepte für die Befreiung des Menschen zu einer würdigen Lohn- und Erwerbsarbeit. Der Mensch sollte nach seiner Meinung dem gesellschaftlichen Reichtum angemessen, eine gerecht verteilte und sinnvolle Betätigung verrichten dürfen. Über Jahrzehnte hat er sich dieser Arbeit gewidmet.
 
Andre Gorz erzählt, dass es "Liebe auf den ersten Blick" gewesen sei, als er Dorine begegnete. Er, der Intellektuelle begegnete in ihr einer Frau, die über eine starke emotinale Intelligenz und Herzenswärme verfügte und die ihn eigentlich zu dem machte, was er am Ende geworden ist. All seine Arbeiten wurden von ihr gelesen und bearbeitet, sie war es, die ihn auf den richtigen Weg führte und doch lebte sie im Hintergrund.
Wie wichtig sie für ihn war, hat er erst im Nachhinein erkannt. Erkennen wir nicht oft erst den Wert des Anderen, wenn er von uns gegangen ist?
 
Ja, in seinem veröffentlichen Buch "Der Verräter" hatte er sie sogar als "bemitleidenswerte Figur dargestellt, er der freie, intellektuelle Schreiberling, sie die von der Arbeit abhängige Sklavin. Und doch hat sie ihm durch ihre Arbeit erst ermöglichen können, dass er zu dem geworden ist, was er dann am Ende war.
 
Er selbst sagte von sich"Lange Zeit konnte ich es nicht ertragen, auf der Welt zu sein, oder ich selbst zu sein." Nur ein Mensch, der ganz bei sich ist, kann diese Momente des Erkennens nachvollziehen!
 
So haben sich zwei unterschiedliche Seelen gefunden, die in ihrer Wesensart so voneinander entfernt waren und sich doch so ergänzt haben, dass Beiden die Möglichkeit gegeben wurde, aneinander zu wachsen.
 
25 Jahre lebten die Beiden auf dem Land, zurückgezogen, jeder nur für den anderen da. Für mich unvorstellbar. Ihre Idylle wurde zerstört, als ein medizinischer Kunstfehler Dorine unwiderruflich zerstört hatte.
 
So stellt uns das Buch vor die Frage? Was ist Liebe zwischen zwei Menschen? Wie zeigt sie sich? Wie will sie gelebt werden! Erkennt man immer erst, wenn es zu spät ist, wie sehr man geliebt hat? Kann man überhaupt mit einem einzigen Menschen so lange Zeit zusammenbleiben, ohne dass die Liebe stirbt?
 
Es muß wohl Liebe sein, wenn es geht! Und doch sehe ich oft in meiner Umwelt in der Begegnung Paare, die zwar lange miteinander leben, aber bei denen ich diese Liebe nicht mehr sichtbar ist. Was sie zusammenhält, ist oft Gewöhnung, Bequemlichkeit, Angst vor dem Alleinsein. Sie tauschen dies gegen Unfreiheit, Selbständigkeit und unterdrückte Unzufriedenheit, die sich sehr oft in kleinen subtilen Sticheleien äußert. MAnchmal, wenn man alte Paare auf der Straße sieht, wie "er" hinter ihr herschleicht, wie sie die Dinge des täglichen Lebens, zwangsweise zusammen erledigen. Keiner von Beiden geht einen Schritt allein. In vielen Beziehungen herrscht Kontrolle über alles, über jede freie Minute des Anderen. Ein Gefühl des Erstickens macht sich dann in mir breit, wenn ich das sehe. So würde ich nicht wollen! Dann lieber allein.
 
Die Liebe des Anfangs geht manchmal zu Ende, wenn sie nicht täglich im Kampf um die eigene Freiheit erneuert wird.
 
"Briefe an D" eine wunderbare Liebeserklärung und ein Eingestehen, dass aller materieller Reichtum dieser Welt nichts ist! Es gibt keinen größeren und menschlicheren Reichtum als das "Empfindungsvermögen." Die Tiefe der Empfindung, über die ein Mensch verfügt, verändert den Anderen und somit die Welt. Über diese starke Empfindungstiefe hatte seine Frau Dorine verfügt und sie hat ihm, dem "Macher" das Leben geschenkt.
 
Merkwürdig das zu lesen, wo wir in einer Welt leben, wo scheinbar Gefühle nichts mehr wert sind, wo man pragmatisch und kopflastig entscheidet, wo niemand mehr beim Anderen ist und sein will, weil man unter Umständen Angst vor den eigenen Gefühlen hat! Man kann einen Überschuß an Theorie haben und ein Defizit an "Menschlichem" Aber so, meint Gorz in seinem Buch, komme man nie weiter.
 
Womit er meine ganze Zustimmung hat! Man kann viel wissen, aber nichts bewirken, aber viel fühlen, und dadurch dem anderen eine Hand reichen!
 
"Nachts sehe ich manchmal die Gestalt eines Mannes, der auf einer leeren Straße in einer öden LAndschaft hinter einem Leichenwagen hergeht. Dieser Mann bin ich. Ich wache auf. Ich lausche auf Deinen Atem, meine Hand berührt Dich. Jeder von uns möchte den anderen nicht überleben müssen".
 
So haben sie gemeinsam ihr Leben beendet.
 
Und so ist diese Aussage Gorz ein schönes Bild für den Menschen an sich, denn wer nicht geliebt wird, ist schon tot!
 
Ich kann dieses wunderbare Buch nur von Herzen empfehlen!
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