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14. Dezember 2020 1 14 /12 /Dezember /2020 10:58

Bücher helfen diese schwierige Zeit gut zu bewältigen. Mir jedenfalls. Mit einem Buch ist der Mensch bekanntlich nie allein. Und wenn ein Buch so kurzweilig, dennoch tiefsinnig und nachdenkenswert ist, vergeht die Zeit wie im Flug. 

 
Auf 134 Seiten fliegen wir mit dem Autor David Szalay um die Welt. Reisen im Kopf dachte ich. Länder und Städte in Gedanken betrachten, sich ausmalen, wie sie wohl ausschauen, was es Sehenswertes gibt, welche Geschichte diese Orte haben, wie Menschen dort leben. Googeln geht ja immer, sich kundig machen, es mit den Bildern zu vergleichen, die im Kopf entstanden sind.
 
Szalay wuchs in London auf, seine Mutter war Kanadierin, sein Vater Ungar. In Oxford studierte er Literatur und arbeitete zeitweise als Verkäufer in einem Anzeigengeschäft der Londoner Finanzindustrie. All zu viel gibt es nicht zu finden über ihn. *Turbulenzen* ist sein fünfter Roman, der jetzt von Henning Ahrens aus dem Englischen übersetzt  im Hanser Verlag erschienen ist. 
 
So bin ich an einem Nachmittag beim 3. Adventskerzchen  auf 134 Seiten mit seinem Büchlein einmal um die Welt geflogen.
 
London - Madrid
Madrid - Dakar 
Dakar - Sao Paulo 
Sao Paulo - Toronto 
Toronto - Seattle
Seattle - Hongkong
Hongkong - Ho-Che-Minh-Stadt
Ho-Che-Minh-Stadt - Bangkog und Delhi
Delhi - Kochi (wusste nicht wo das ist)
Kochi - Doha
Doha - Budapest
Budapest - London
 
Wer fliegt kann in Turbulenzen geraten. Und auch das Leben gerät immer wieder  in Turbulenzen, in gefährliche, manchmal  auch freudige Turbulenzen. Die Letzteren sind uns selbstverständlich lieber. 
 
Im ersten Kapitel sitzt im Flug von London nach Madrid eine Frau mit ihrer Flugangst. Sie wollte eigentlich lieber mit Zug und Bus, aber die Vernunft und die Statistik überzeugte sie am Ende. Letzten Endes ist der Flug immer noch das Sicherste. Sie lebt in Madrid, besuchte jedoch einen Monat lang ihren Sohn in London, der an Prostatakrebs erkrankt war. Nun hat sie ihn in seiner Wohnung allein gelassen. Er wollte nicht, dass sie bleibt. Tief in ihren Sitz versunken hängt sie ihren Gedanken nach. Wird er es schaffen? Wird er das Jahr durchhalten? Neben ihr schaut ein Mann auf seinen Bildschirm. Sie hört nichts, aber sieht, dass sich Menschen dort anschreien. Auf ihrem Bildschirm vor ihr ist nur die Route zu sehen und wo der Flieger sich gerade genau befindet. Sie dämmert vor sich hin und dann kommen die Turbulenzen. Sie hat Angst, richtig Angst. Manchmal löst Angst die Zunge und hebt Distanzen auf. So auch bei ihr und sie beginnt mit dem Mann neben ihr, der zuvor von ihr dachte, ein typisch englischer Charakter, die Dame, unnahbar, distanziert und schweigsam.
Nun aber, in ihrer beider Angst kommen sie sich näher, tauschen Informationen aus, er zeigt ihr Bilder von seinen Kindern. Sie erzählt von der Krankheit ihres Sohnes. Er bemerkt ihre tiefe Sorge. Er befindet sich auf dem Heimflug nach Dakar.  
 
By the way...Ein Flieger nach Madrid muss sich immer auf Turbulenzen gefasst machen. Es ist einer der Strecken in der Luft, die am häufigsten davon betroffen ist. Wird in einer der Geschichten gesagt. Ich hab das überprüft und gegoogelt.  Es stimmt wohl. 
 
Es ist oft so, dass sich Menschen Fremden gegenüber je nach den Turbulenzen, in denen sie sich gerade befinden, leichter öffnen. Mir ist das auch schon oft passiert. Den Fremden sieht man ja nicht mehr wieder. Er hat nichts in der Hand von und mit dem, was man anvertraut hatte. Es ist so viel leichter. Zudem wissen Menschen oft nicht was sie erwidern sollen, wenn sie von Traurigem, Schwerem und Unfassbarem, was dem Anderen widerfahren ist, hören. Selbst die, denen eine eintretende Turbulenz in ihrem Leben, sei es Krankheit, ein Unfall, der Tod eines  geliebten Menschen, ihr Leben durcheinanderwirbelt, haben oft keine Antwort. Finden sie auch nicht, weil sie sich dem Ereignis nicht stellen, sich ablenken, einfach nur vergessen wollen. Trauer wollen sie nicht. Sie sind zu schwach, um sie zuzulassen. 
 
Ich deute nur die erste Episode eines Fluges und der beiden Menschen, die sich dort begegnen an. Es folgen weitere 11 kurze Episoden von Menschen auf Flügen an Orte, wo sie entweder selber wohnen, sich also auf dem Heimweg befinden oder Menschen besuchen wollen, die wie sie dann erfahren, ebenfalls in Lebensturbulenzen geraten sind.
 
Manchmal schreibt Szalay über die Ereignisse, ein anderes Mal wieder deutet er sie an und man muss sich eigenen Gedanken machen, was da ist, wie es ausgeht und wie die Betroffenen damit wohl umgehen werden. Das machte es für mich so interessant. 
 
Wir reisen also mit seinem Büchlein um die Welt und sind am Ende wieder in London. Dort, wo der an Prostatakrebs erkrankte Sohn der Frau auf dem ersten Flug lebt. Dort wird er von seiner Tochter besucht, die aus Budapest zu ihm kommt um ihn ins Krankenhaus zu begleiten, wo er die Ergebnisse der bisherigen Behandlungsmethode erfahren wird. Sie will den Vater nicht alleine damit lassen. 
 
Jedoch geht es immer um Menschen auf diesen Flügen, die im vorhergehenden Kapitel ebenfalls schon als Nebenfigur aufgetaucht sind. Mir kam, wie ich oft auch denke, der Gedanke, das Leben der Menschen ist miteinander verbunden, manchmal, ohne dass wir weiter darüber nachdenken oder gar erfahren, was aus ihnen geworden ist. Denen, denen wir begegnet sind, mit denen wir geredet haben, die uns etwas anvertraut haben und wir Anteil genommen haben. 
 
Wenn ich ein Fazit ziehe aus allen Geschichten geht es um das Leben des Menschen an sich. Um das Sein. Wer man ist, wie man mit den Umständen der eintretenden Ereignisse im Leben umgeht. Was man daraus macht. Ob man Antworten findet oder wie ich oben schrieb, sie zumindest sucht. Und es geht immer auch um Nähe. Eine Nähe zu Menschen, die jeder doch sucht, aber sie selten findet. Also, die richtige Nähe, nicht das täuschende oberflächliche Miteinander. In einer Statistik las ich neulich, dass für  85% der befragten Menschen gute Freunde und enge Beziehungen zu anderen Menschen das Wichtigste im Leben sei. Das würde ich auch unterstreichen. Es braucht nicht viele, aber ein, zwei und wenn man sie hat, kann man den Turbulenzen des eigenen Lebens besser und stärker entgegentreten. 
 
Ob der Mensch dann glücklich ist mit seinem Leben? 
 
Bist du glücklich, fragt ein Mann eine Frau nach einer miteinander verbrachten Nacht morgens beim Wachwerden in einer Episode. Und er meinte nicht ob dieser zusammen verbrachten Nacht, nein er denkt überhaupt, mit ihrem Leben.  Eine Frage, die die Frau sicher nicht erwartet hatte. Dieses Zusammensein mit ihm schien ihr unverbindlich. Befriedigung eines Verlangens. Und nun das. Bist du glücklich.
 
Wann wurde einem das letzte Mal eine solche Frage gestellt, dachte ich. Mir. Ich kann mich nicht erinnern so richtig. Eher stelle ich mir die Frage immer mal wieder selber. Meine Antwort ist immer die selbe. Manchmal ja. Zumeist genügt es mir, wenn ein *ich bin zufrieden* die Antwort ist. 
 
Ein schönes Büchlein, dass ich jedem Lesebegeisterten wärmstens ans Herz lege. Gerade jetzt in dieser Zeit, wo es viel Zeit hat, zum Nachdenken, still werden, genauer hinschauen und Fragen zu stellen.
 
David Szalay
*Turbulenzen*
Hanser-Verlag
ISBN: 978-3-448-26765-7
19,00 Euro 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
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